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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Wasser überspritzte. Athem und Stimme stockten ihr,
und ihr Auge füllte sich mit Thränen. Endlich faßte
sie den Helden beim Knie: "Odysseus, mein Sohn,
wahrlich, du bist es," rief sie, "ich habe es mit Hän¬
den gegriffen." Aber Odysseus drückte ihr mit seiner
Rechten die Kehle zu, mit der Linken zog er sie an sich
und flüsterte: "Mütterchen, willst du mich verderben?
Du redest freilich wahr, aber noch darf es kein Mensch
im Palaste wissen! Schweigst du nicht, und es gelingt
mir, die Freier zu bezwingen, so erwartet dich dasselbe
Schicksal, wie die gottlosen Mägde." "Welch ein Wort
sprichst du da," antwortete die Schaffnerin ruhig, als
er ihr die Kehle wieder losgelassen, "weißt du nicht,
daß mein Herz fest ist wie Fels und Eisen, hüte dich
nur vor den andern Mägden im Palaste! ich will dir
Alle nennen, die dich verachten." "Es braucht das
nicht," sprach Odysseus, "ich kenne sie schon, und du
darfst ruhig seyn!" Inzwischen hatte Euryklea ein
zweites Fußbad geholt, denn das erste war ganz ver¬
schüttet. Nachdem er nun wohl gebadet und gesalbt war,
besprach sich Penelope noch eine Weile mit ihm. "Mein
Geist schwankt hin und her," sagte sie, "guter Fremd¬
ling, ob ich bei meinem Sohne bleiben soll, aus Scheu
vor meinem Gemahl, der ja doch vielleicht noch lebt,
und für jenen unser Gut verwalten, oder ob mich der
edelste unter den Freiern, der die herrlichste Brautgabe
bietet, heimführen soll. So lange Telemach noch ein
Kind war, ließ mich seine Jugend nicht heirathen; nun
er aber das Jünglingsalter erreicht hat, wünscht er
selbst, daß ich aus dem Hause gehe, weil sein Erbgut
sonst doch nur vollends verschwelgt wird. -- Aber jetzt

Schwab, das klass. Alterthum. III. 16

Waſſer überſpritzte. Athem und Stimme ſtockten ihr,
und ihr Auge füllte ſich mit Thränen. Endlich faßte
ſie den Helden beim Knie: „Odyſſeus, mein Sohn,
wahrlich, du biſt es,“ rief ſie, „ich habe es mit Hän¬
den gegriffen.“ Aber Odyſſeus drückte ihr mit ſeiner
Rechten die Kehle zu, mit der Linken zog er ſie an ſich
und flüſterte: „Mütterchen, willſt du mich verderben?
Du redeſt freilich wahr, aber noch darf es kein Menſch
im Palaſte wiſſen! Schweigſt du nicht, und es gelingt
mir, die Freier zu bezwingen, ſo erwartet dich daſſelbe
Schickſal, wie die gottloſen Mägde.“ „Welch ein Wort
ſprichſt du da,“ antwortete die Schaffnerin ruhig, als
er ihr die Kehle wieder losgelaſſen, „weißt du nicht,
daß mein Herz feſt iſt wie Fels und Eiſen, hüte dich
nur vor den andern Mägden im Palaſte! ich will dir
Alle nennen, die dich verachten.“ „Es braucht das
nicht,“ ſprach Odyſſeus, „ich kenne ſie ſchon, und du
darfſt ruhig ſeyn!“ Inzwiſchen hatte Euryklea ein
zweites Fußbad geholt, denn das erſte war ganz ver¬
ſchüttet. Nachdem er nun wohl gebadet und geſalbt war,
beſprach ſich Penelope noch eine Weile mit ihm. „Mein
Geiſt ſchwankt hin und her,“ ſagte ſie, „guter Fremd¬
ling, ob ich bei meinem Sohne bleiben ſoll, aus Scheu
vor meinem Gemahl, der ja doch vielleicht noch lebt,
und für jenen unſer Gut verwalten, oder ob mich der
edelſte unter den Freiern, der die herrlichſte Brautgabe
bietet, heimführen ſoll. So lange Telemach noch ein
Kind war, ließ mich ſeine Jugend nicht heirathen; nun
er aber das Jünglingsalter erreicht hat, wünſcht er
ſelbſt, daß ich aus dem Hauſe gehe, weil ſein Erbgut
ſonſt doch nur vollends verſchwelgt wird. — Aber jetzt

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 16
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[241/0263] Waſſer überſpritzte. Athem und Stimme ſtockten ihr, und ihr Auge füllte ſich mit Thränen. Endlich faßte ſie den Helden beim Knie: „Odyſſeus, mein Sohn, wahrlich, du biſt es,“ rief ſie, „ich habe es mit Hän¬ den gegriffen.“ Aber Odyſſeus drückte ihr mit ſeiner Rechten die Kehle zu, mit der Linken zog er ſie an ſich und flüſterte: „Mütterchen, willſt du mich verderben? Du redeſt freilich wahr, aber noch darf es kein Menſch im Palaſte wiſſen! Schweigſt du nicht, und es gelingt mir, die Freier zu bezwingen, ſo erwartet dich daſſelbe Schickſal, wie die gottloſen Mägde.“ „Welch ein Wort ſprichſt du da,“ antwortete die Schaffnerin ruhig, als er ihr die Kehle wieder losgelaſſen, „weißt du nicht, daß mein Herz feſt iſt wie Fels und Eiſen, hüte dich nur vor den andern Mägden im Palaſte! ich will dir Alle nennen, die dich verachten.“ „Es braucht das nicht,“ ſprach Odyſſeus, „ich kenne ſie ſchon, und du darfſt ruhig ſeyn!“ Inzwiſchen hatte Euryklea ein zweites Fußbad geholt, denn das erſte war ganz ver¬ ſchüttet. Nachdem er nun wohl gebadet und geſalbt war, beſprach ſich Penelope noch eine Weile mit ihm. „Mein Geiſt ſchwankt hin und her,“ ſagte ſie, „guter Fremd¬ ling, ob ich bei meinem Sohne bleiben ſoll, aus Scheu vor meinem Gemahl, der ja doch vielleicht noch lebt, und für jenen unſer Gut verwalten, oder ob mich der edelſte unter den Freiern, der die herrlichſte Brautgabe bietet, heimführen ſoll. So lange Telemach noch ein Kind war, ließ mich ſeine Jugend nicht heirathen; nun er aber das Jünglingsalter erreicht hat, wünſcht er ſelbſt, daß ich aus dem Hauſe gehe, weil ſein Erbgut ſonſt doch nur vollends verſchwelgt wird. — Aber jetzt Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 16

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/263>, abgerufen am 22.11.2024.