Hier geschah es, daß Melantho den Odysseus zum zwei¬ tenmale höhnte. "Fremdling," sagte sie, "du wirst doch nicht die Nacht über dableiben und im Palaste herum¬ lungern wollen? Begnüge dich mit dem Genossenen, und geh auf der Stelle aus der Thüre hinaus, wenn nicht dieser Feuerbrand dir nachfliegen soll!" Odysseus schaute sie finster an und entgegnete: "Unbegreifliche, warum bist du so erbittert auf mich? weil ich in Lum¬ pen gehe und bettle? Ist das nicht das gemeinsame Schicksal aller Umherirrenden? Einst war auch ich glück¬ lich, wohnte im reichen Hause, gab dem wandernden Fremdling, wie auch sein Aussehen seyn mochte, was er bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug; doch das Alles hat mir Jupiter genommen. Bedenke, Weib, daß es dir auch so gehen könnte; wie, wenn die Fürstin einmal dir ernstlich zürnete? wenn gar Odysseus heimkäme? Noch ist die Hoffnung dazu nicht ganz ver¬ schwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr ist, an seiner Stelle handelte?"
Penelope hörte, was der Bettler sprach, und schalt die übermüthige Dienerin: "Schamloses Weib, ich kenne deine schlechte Seele wohl, und weiß, was du thust; du sollst es mir mit deinem Kopfe büßen! Hast du doch selbst von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre, und ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl be¬ fragen will, und dennoch wagst du's, denselben zu ver¬ höhnen!" Melantho schlich eingeschüchtert davon, die Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinstellen, und nun begann Penelope das Gespräch: "Vor allen Dingen, Fremdling," sagte sie, "nenne mir dein Haus und Geschlecht." "Königin," antwortete Odysseus, "du
Hier geſchah es, daß Melantho den Odyſſeus zum zwei¬ tenmale höhnte. „Fremdling,“ ſagte ſie, „du wirſt doch nicht die Nacht über dableiben und im Palaſte herum¬ lungern wollen? Begnüge dich mit dem Genoſſenen, und geh auf der Stelle aus der Thüre hinaus, wenn nicht dieſer Feuerbrand dir nachfliegen ſoll!“ Odyſſeus ſchaute ſie finſter an und entgegnete: „Unbegreifliche, warum biſt du ſo erbittert auf mich? weil ich in Lum¬ pen gehe und bettle? Iſt das nicht das gemeinſame Schickſal aller Umherirrenden? Einſt war auch ich glück¬ lich, wohnte im reichen Hauſe, gab dem wandernden Fremdling, wie auch ſein Ausſehen ſeyn mochte, was er bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug; doch das Alles hat mir Jupiter genommen. Bedenke, Weib, daß es dir auch ſo gehen könnte; wie, wenn die Fürſtin einmal dir ernſtlich zürnete? wenn gar Odyſſeus heimkäme? Noch iſt die Hoffnung dazu nicht ganz ver¬ ſchwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr iſt, an ſeiner Stelle handelte?“
Penelope hörte, was der Bettler ſprach, und ſchalt die übermüthige Dienerin: „Schamloſes Weib, ich kenne deine ſchlechte Seele wohl, und weiß, was du thuſt; du ſollſt es mir mit deinem Kopfe büßen! Haſt du doch ſelbſt von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre, und ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl be¬ fragen will, und dennoch wagſt du's, denſelben zu ver¬ höhnen!“ Melantho ſchlich eingeſchüchtert davon, die Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinſtellen, und nun begann Penelope das Geſpräch: „Vor allen Dingen, Fremdling,“ ſagte ſie, „nenne mir dein Haus und Geſchlecht.“ „Königin,“ antwortete Odyſſeus, „du
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Hier geſchah es, daß Melantho den Odyſſeus zum zwei¬
tenmale höhnte. „Fremdling,“ ſagte ſie, „du wirſt doch
nicht die Nacht über dableiben und im Palaſte herum¬
lungern wollen? Begnüge dich mit dem Genoſſenen,
und geh auf der Stelle aus der Thüre hinaus, wenn
nicht dieſer Feuerbrand dir nachfliegen ſoll!“ Odyſſeus
ſchaute ſie finſter an und entgegnete: „Unbegreifliche,
warum biſt du ſo erbittert auf mich? weil ich in Lum¬
pen gehe und bettle? Iſt das nicht das gemeinſame
Schickſal aller Umherirrenden? Einſt war auch ich glück¬
lich, wohnte im reichen Hauſe, gab dem wandernden
Fremdling, wie auch ſein Ausſehen ſeyn mochte, was er
bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug;
doch das Alles hat mir Jupiter genommen. Bedenke,
Weib, daß es dir auch ſo gehen könnte; wie, wenn die
Fürſtin einmal dir ernſtlich zürnete? wenn gar Odyſſeus
heimkäme? Noch iſt die Hoffnung dazu nicht ganz ver¬
ſchwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr
iſt, an ſeiner Stelle handelte?“
Penelope hörte, was der Bettler ſprach, und ſchalt
die übermüthige Dienerin: „Schamloſes Weib, ich kenne
deine ſchlechte Seele wohl, und weiß, was du thuſt;
du ſollſt es mir mit deinem Kopfe büßen! Haſt du doch
ſelbſt von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre, und
ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl be¬
fragen will, und dennoch wagſt du's, denſelben zu ver¬
höhnen!“ Melantho ſchlich eingeſchüchtert davon, die
Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinſtellen,
und nun begann Penelope das Geſpräch: „Vor allen
Dingen, Fremdling,“ ſagte ſie, „nenne mir dein Haus
und Geſchlecht.“ „Königin,“ antwortete Odyſſeus, „du
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/259>, abgerufen am 22.11.2024.
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