Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

die Freier wünschten, möchten diese doch eben so gezwun¬
gen ihr Haupt hängen lassen, wie jener Elende draußen
an der Schwelle des Hofes dasitzt!" Telemach hatte
dieses so gesprochen, daß die Freier es nicht hören
konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem
Anblicke der reizenden Königin: "Ikarius Tochter, wenn
dich alle Achajer in ganz Griechenland sehen könnten,
wahrhaftig es erschienen morgen noch viel mehr Freier
zum Schmause, so weit übertriffst du alle Weiber an
Gestalt und Geist!" "Ach Eurymachus," antwortete
Penelope, "meine Schönheit ist dahin, seit mein Gemahl
mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder
zurück und beschirmte mein Leben, ja dann möchte ich
wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Odysseus
das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da
sprach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk' ich,
wohl nicht alle gesund von Troja heimkehren: die Tro¬
janer sollen des Streites kundige Männer seyn, treffliche
Speerschleuderer, Bogenschützen, Wagenlenker. So weiß
denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen,
oder dort wegraffen wird. Beschicke du Alles im Haus,
und sorge mir für Vater und Mutter wo möglich noch
zärtlicher, als du bisher gethan hast. Und wenn dein
Sohn herangewachsen ist, und ich nicht mehr heimkehre,
dann magst du dich vermählen, wenn du willst, und
unsre Wohnung verlassen. So sprach er, und nun wird
Alles wahr! Weh mir, der entsetzliche Tag der Hoch¬
zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich
ihm entgegen! Denn diese Freier da haben ganz andere
Sitte, als man sonst bei Brautbewerbern findet. Wenn
Andere eines ansehnlichen Mannes Tochter zum Weibe

die Freier wünſchten, möchten dieſe doch eben ſo gezwun¬
gen ihr Haupt hängen laſſen, wie jener Elende draußen
an der Schwelle des Hofes daſitzt!“ Telemach hatte
dieſes ſo geſprochen, daß die Freier es nicht hören
konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem
Anblicke der reizenden Königin: „Ikarius Tochter, wenn
dich alle Achajer in ganz Griechenland ſehen könnten,
wahrhaftig es erſchienen morgen noch viel mehr Freier
zum Schmauſe, ſo weit übertriffſt du alle Weiber an
Geſtalt und Geiſt!“ „Ach Eurymachus,“ antwortete
Penelope, „meine Schönheit iſt dahin, ſeit mein Gemahl
mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder
zurück und beſchirmte mein Leben, ja dann möchte ich
wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Odyſſeus
das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da
ſprach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk' ich,
wohl nicht alle geſund von Troja heimkehren: die Tro¬
janer ſollen des Streites kundige Männer ſeyn, treffliche
Speerſchleuderer, Bogenſchützen, Wagenlenker. So weiß
denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen,
oder dort wegraffen wird. Beſchicke du Alles im Haus,
und ſorge mir für Vater und Mutter wo möglich noch
zärtlicher, als du bisher gethan haſt. Und wenn dein
Sohn herangewachſen iſt, und ich nicht mehr heimkehre,
dann magſt du dich vermählen, wenn du willſt, und
unſre Wohnung verlaſſen. So ſprach er, und nun wird
Alles wahr! Weh mir, der entſetzliche Tag der Hoch¬
zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich
ihm entgegen! Denn dieſe Freier da haben ganz andere
Sitte, als man ſonſt bei Brautbewerbern findet. Wenn
Andere eines anſehnlichen Mannes Tochter zum Weibe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0253" n="231"/>
die Freier wün&#x017F;chten, möchten die&#x017F;e doch eben &#x017F;o gezwun¬<lb/>
gen ihr Haupt hängen la&#x017F;&#x017F;en, wie jener Elende draußen<lb/>
an der Schwelle des Hofes da&#x017F;itzt!&#x201C; Telemach hatte<lb/>
die&#x017F;es &#x017F;o ge&#x017F;prochen, daß die Freier es nicht hören<lb/>
konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem<lb/>
Anblicke der reizenden Königin: &#x201E;Ikarius Tochter, wenn<lb/>
dich alle Achajer in ganz Griechenland &#x017F;ehen könnten,<lb/>
wahrhaftig es er&#x017F;chienen morgen noch viel mehr Freier<lb/>
zum Schmau&#x017F;e, &#x017F;o weit übertriff&#x017F;t du alle Weiber an<lb/>
Ge&#x017F;talt und Gei&#x017F;t!&#x201C; &#x201E;Ach Eurymachus,&#x201C; antwortete<lb/>
Penelope, &#x201E;meine Schönheit i&#x017F;t dahin, &#x017F;eit mein Gemahl<lb/>
mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder<lb/>
zurück und be&#x017F;chirmte mein Leben, ja dann möchte ich<lb/>
wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Ody&#x017F;&#x017F;eus<lb/>
das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da<lb/>
&#x017F;prach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk' ich,<lb/>
wohl nicht alle ge&#x017F;und von Troja heimkehren: die Tro¬<lb/>
janer &#x017F;ollen des Streites kundige Männer &#x017F;eyn, treffliche<lb/>
Speer&#x017F;chleuderer, Bogen&#x017F;chützen, Wagenlenker. So weiß<lb/>
denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen,<lb/>
oder dort wegraffen wird. Be&#x017F;chicke du Alles im Haus,<lb/>
und &#x017F;orge mir für Vater und Mutter wo möglich noch<lb/>
zärtlicher, als du bisher gethan ha&#x017F;t. Und wenn dein<lb/>
Sohn herangewach&#x017F;en i&#x017F;t, und ich nicht mehr heimkehre,<lb/>
dann mag&#x017F;t du dich vermählen, wenn du will&#x017F;t, und<lb/>
un&#x017F;re Wohnung verla&#x017F;&#x017F;en. So &#x017F;prach er, und nun wird<lb/>
Alles wahr! Weh mir, der ent&#x017F;etzliche Tag der Hoch¬<lb/>
zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich<lb/>
ihm entgegen! Denn die&#x017F;e Freier da haben ganz andere<lb/>
Sitte, als man &#x017F;on&#x017F;t bei Brautbewerbern findet. Wenn<lb/>
Andere eines an&#x017F;ehnlichen Mannes Tochter zum Weibe<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0253] die Freier wünſchten, möchten dieſe doch eben ſo gezwun¬ gen ihr Haupt hängen laſſen, wie jener Elende draußen an der Schwelle des Hofes daſitzt!“ Telemach hatte dieſes ſo geſprochen, daß die Freier es nicht hören konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem Anblicke der reizenden Königin: „Ikarius Tochter, wenn dich alle Achajer in ganz Griechenland ſehen könnten, wahrhaftig es erſchienen morgen noch viel mehr Freier zum Schmauſe, ſo weit übertriffſt du alle Weiber an Geſtalt und Geiſt!“ „Ach Eurymachus,“ antwortete Penelope, „meine Schönheit iſt dahin, ſeit mein Gemahl mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder zurück und beſchirmte mein Leben, ja dann möchte ich wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Odyſſeus das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da ſprach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk' ich, wohl nicht alle geſund von Troja heimkehren: die Tro¬ janer ſollen des Streites kundige Männer ſeyn, treffliche Speerſchleuderer, Bogenſchützen, Wagenlenker. So weiß denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen, oder dort wegraffen wird. Beſchicke du Alles im Haus, und ſorge mir für Vater und Mutter wo möglich noch zärtlicher, als du bisher gethan haſt. Und wenn dein Sohn herangewachſen iſt, und ich nicht mehr heimkehre, dann magſt du dich vermählen, wenn du willſt, und unſre Wohnung verlaſſen. So ſprach er, und nun wird Alles wahr! Weh mir, der entſetzliche Tag der Hoch¬ zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich ihm entgegen! Denn dieſe Freier da haben ganz andere Sitte, als man ſonſt bei Brautbewerbern findet. Wenn Andere eines anſehnlichen Mannes Tochter zum Weibe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/253
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/253>, abgerufen am 21.11.2024.