wie der Adler, aus seinem Nest im Gebirge gekommen, die Gans weggerafft hat, die sich vom Fett unsrer Woh¬ nung mästete: so wird Odysseus nach langer Irrfahrt und Qual als Rächer in die Heimath zurückkehren, oder ist schon zurückgekehrt, den gemästeten Freiern zum Ver¬ derben!" "Geb' es Jupiter so," antwortete Telemach, "dann, edle Fürstin, will ich dich zu Hause stets wie eine Göttin anflehen."
Und nun eilten die beiden Gäste mit dem Wagen davon. Am Abend übernachteten sie, gastreich gepflegt, wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu Pherä, und am zweiten Tage erreichten sie glücklich die Stadt Pylos. Aber ehe sie hineinfuhren, wandte sich Telemach bittend an seinen jungen Freund: "Lieber Pi¬ sistratus," sprach er, "so befreundet unsere Väter sind, so innig diese Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge mir's nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß dein greiser Vater mich nicht aus lauter Liebe mit Zwang in seiner Wohnung zurückhalte, denn du weißest ja selbst, wie sehr ich meine Heimkehr beschleunigen muß." Pisistratus fand sein Gesuch natürlich, lenkte mit seinen Rossen an der Stadt vorüber, und brachte den Freund geradenwegs an den Strand zu seinem Schiffe. Hier nahm er recht herzlichen Abschied von seinem Freunde und sprach: "Besteige nur rasch dein Schiff und fahre davon; denn erführe mein Vater, daß du da bist, er würde gewiß selbst kommen und dich nöthigen, in seinem Palast einzukehren." Telemach gehorchte seinen Worten, die Genossen bestiegen das Schiff und setzten sich auf die Ruderbänke, er selbst aber stellte sich noch auf dem Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und
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wie der Adler, aus ſeinem Neſt im Gebirge gekommen, die Gans weggerafft hat, die ſich vom Fett unſrer Woh¬ nung mäſtete: ſo wird Odyſſeus nach langer Irrfahrt und Qual als Rächer in die Heimath zurückkehren, oder iſt ſchon zurückgekehrt, den gemäſteten Freiern zum Ver¬ derben!“ „Geb' es Jupiter ſo,“ antwortete Telemach, „dann, edle Fürſtin, will ich dich zu Hauſe ſtets wie eine Göttin anflehen.“
Und nun eilten die beiden Gäſte mit dem Wagen davon. Am Abend übernachteten ſie, gaſtreich gepflegt, wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu Pherä, und am zweiten Tage erreichten ſie glücklich die Stadt Pylos. Aber ehe ſie hineinfuhren, wandte ſich Telemach bittend an ſeinen jungen Freund: „Lieber Pi¬ ſiſtratus,“ ſprach er, „ſo befreundet unſere Väter ſind, ſo innig dieſe Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge mir's nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß dein greiſer Vater mich nicht aus lauter Liebe mit Zwang in ſeiner Wohnung zurückhalte, denn du weißeſt ja ſelbſt, wie ſehr ich meine Heimkehr beſchleunigen muß.“ Piſiſtratus fand ſein Geſuch natürlich, lenkte mit ſeinen Roſſen an der Stadt vorüber, und brachte den Freund geradenwegs an den Strand zu ſeinem Schiffe. Hier nahm er recht herzlichen Abſchied von ſeinem Freunde und ſprach: „Beſteige nur raſch dein Schiff und fahre davon; denn erführe mein Vater, daß du da biſt, er würde gewiß ſelbſt kommen und dich nöthigen, in ſeinem Palaſt einzukehren.“ Telemach gehorchte ſeinen Worten, die Genoſſen beſtiegen das Schiff und ſetzten ſich auf die Ruderbänke, er ſelbſt aber ſtellte ſich noch auf dem Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und
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wie der Adler, aus ſeinem Neſt im Gebirge gekommen,
die Gans weggerafft hat, die ſich vom Fett unſrer Woh¬
nung mäſtete: ſo wird Odyſſeus nach langer Irrfahrt
und Qual als Rächer in die Heimath zurückkehren, oder
iſt ſchon zurückgekehrt, den gemäſteten Freiern zum Ver¬
derben!“ „Geb' es Jupiter ſo,“ antwortete Telemach,
„dann, edle Fürſtin, will ich dich zu Hauſe ſtets wie
eine Göttin anflehen.“
Und nun eilten die beiden Gäſte mit dem Wagen
davon. Am Abend übernachteten ſie, gaſtreich gepflegt,
wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu
Pherä, und am zweiten Tage erreichten ſie glücklich die
Stadt Pylos. Aber ehe ſie hineinfuhren, wandte ſich
Telemach bittend an ſeinen jungen Freund: „Lieber Pi¬
ſiſtratus,“ ſprach er, „ſo befreundet unſere Väter ſind,
ſo innig dieſe Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge
mir's nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß
dein greiſer Vater mich nicht aus lauter Liebe mit
Zwang in ſeiner Wohnung zurückhalte, denn du weißeſt
ja ſelbſt, wie ſehr ich meine Heimkehr beſchleunigen muß.“
Piſiſtratus fand ſein Geſuch natürlich, lenkte mit ſeinen
Roſſen an der Stadt vorüber, und brachte den Freund
geradenwegs an den Strand zu ſeinem Schiffe. Hier
nahm er recht herzlichen Abſchied von ſeinem Freunde
und ſprach: „Beſteige nur raſch dein Schiff und fahre
davon; denn erführe mein Vater, daß du da biſt, er
würde gewiß ſelbſt kommen und dich nöthigen, in ſeinem
Palaſt einzukehren.“ Telemach gehorchte ſeinen Worten,
die Genoſſen beſtiegen das Schiff und ſetzten ſich auf
die Ruderbänke, er ſelbſt aber ſtellte ſich noch auf dem
Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/217>, abgerufen am 23.11.2024.
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