Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte sie zu
unserem Entsetzen, wie das erstemal, zum Frühstück.
Dann trieb er die feiste Heerde aus der Höhle, nach¬
dem er den Fels abgehoben, ging selbst mit hinaus
und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel
auf den Köcher setzt. Wir hörten ihn mit gellendem
Pfeifen seine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬
ben in der Todesangst zurück und jeder erwartete, daß
das nächstemal die Reihe, gefressen zu werden, an ihn
kommen werde. Ich selbst bewegte fortwährend Entwürfe
der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen sollte,
dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬
danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die
mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz;
er hatte sie sich abgehauen, um sie zu tragen, wenn sie
dürre geworden wäre; uns erschien sie an Länge und
Dicke dem Mast eines großen Schiffes gleich. Von die¬
ser Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie
ein Arm ihn umspannen kann, reichte denselben den Freun¬
den und hieß sie ihn glatt schaben, dann schärfte ich
ihn oben ganz spitz und brannte ihn in der Flamme hart.
Diesen Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Miste,
dessen es haufenweise in der Höhle gab. Dann loosten
meine Genossen, wer es wagen sollte, den Brandpfahl
dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er
im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapfersten
der Freunde, die ich mir selbst ausgewählt hätte, und
der fünfte war ich.

Am Abend kam der gräßliche Hirte mit seiner Heerde
heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, sondern trieb
alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er

er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte ſie zu
unſerem Entſetzen, wie das erſtemal, zum Frühſtück.
Dann trieb er die feiſte Heerde aus der Höhle, nach¬
dem er den Fels abgehoben, ging ſelbſt mit hinaus
und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel
auf den Köcher ſetzt. Wir hörten ihn mit gellendem
Pfeifen ſeine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬
ben in der Todesangſt zurück und jeder erwartete, daß
das nächſtemal die Reihe, gefreſſen zu werden, an ihn
kommen werde. Ich ſelbſt bewegte fortwährend Entwürfe
der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen ſollte,
dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬
danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die
mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz;
er hatte ſie ſich abgehauen, um ſie zu tragen, wenn ſie
dürre geworden wäre; uns erſchien ſie an Länge und
Dicke dem Maſt eines großen Schiffes gleich. Von die¬
ſer Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie
ein Arm ihn umſpannen kann, reichte denſelben den Freun¬
den und hieß ſie ihn glatt ſchaben, dann ſchärfte ich
ihn oben ganz ſpitz und brannte ihn in der Flamme hart.
Dieſen Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Miſte,
deſſen es haufenweiſe in der Höhle gab. Dann loosten
meine Genoſſen, wer es wagen ſollte, den Brandpfahl
dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er
im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapferſten
der Freunde, die ich mir ſelbſt ausgewählt hätte, und
der fünfte war ich.

Am Abend kam der gräßliche Hirte mit ſeiner Heerde
heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, ſondern trieb
alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0152" n="130"/>
er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte &#x017F;ie zu<lb/>
un&#x017F;erem Ent&#x017F;etzen, wie das er&#x017F;temal, zum Früh&#x017F;tück.<lb/>
Dann trieb er die fei&#x017F;te Heerde aus der Höhle, nach¬<lb/>
dem er den Fels abgehoben, ging &#x017F;elb&#x017F;t mit hinaus<lb/>
und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel<lb/>
auf den Köcher &#x017F;etzt. Wir hörten ihn mit gellendem<lb/>
Pfeifen &#x017F;eine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬<lb/>
ben in der Todesang&#x017F;t zurück und jeder erwartete, daß<lb/>
das näch&#x017F;temal die Reihe, gefre&#x017F;&#x017F;en zu werden, an ihn<lb/>
kommen werde. Ich &#x017F;elb&#x017F;t bewegte fortwährend Entwürfe<lb/>
der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen &#x017F;ollte,<lb/>
dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬<lb/>
danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die<lb/>
mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz;<lb/>
er hatte &#x017F;ie &#x017F;ich abgehauen, um &#x017F;ie zu tragen, wenn &#x017F;ie<lb/>
dürre geworden wäre; uns er&#x017F;chien &#x017F;ie an Länge und<lb/>
Dicke dem Ma&#x017F;t eines großen Schiffes gleich. Von die¬<lb/>
&#x017F;er Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie<lb/>
ein Arm ihn um&#x017F;pannen kann, reichte den&#x017F;elben den Freun¬<lb/>
den und hieß &#x017F;ie ihn glatt &#x017F;chaben, dann &#x017F;chärfte ich<lb/>
ihn oben ganz &#x017F;pitz und brannte ihn in der Flamme hart.<lb/>
Die&#x017F;en Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Mi&#x017F;te,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en es haufenwei&#x017F;e in der Höhle gab. Dann loosten<lb/>
meine Geno&#x017F;&#x017F;en, wer es wagen &#x017F;ollte, den Brandpfahl<lb/>
dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er<lb/>
im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapfer&#x017F;ten<lb/>
der Freunde, die ich mir &#x017F;elb&#x017F;t ausgewählt hätte, und<lb/>
der fünfte war ich.</p><lb/>
              <p>Am Abend kam der gräßliche Hirte mit &#x017F;einer Heerde<lb/>
heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, &#x017F;ondern trieb<lb/>
alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0152] er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte ſie zu unſerem Entſetzen, wie das erſtemal, zum Frühſtück. Dann trieb er die feiſte Heerde aus der Höhle, nach¬ dem er den Fels abgehoben, ging ſelbſt mit hinaus und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel auf den Köcher ſetzt. Wir hörten ihn mit gellendem Pfeifen ſeine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬ ben in der Todesangſt zurück und jeder erwartete, daß das nächſtemal die Reihe, gefreſſen zu werden, an ihn kommen werde. Ich ſelbſt bewegte fortwährend Entwürfe der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen ſollte, dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬ danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz; er hatte ſie ſich abgehauen, um ſie zu tragen, wenn ſie dürre geworden wäre; uns erſchien ſie an Länge und Dicke dem Maſt eines großen Schiffes gleich. Von die¬ ſer Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie ein Arm ihn umſpannen kann, reichte denſelben den Freun¬ den und hieß ſie ihn glatt ſchaben, dann ſchärfte ich ihn oben ganz ſpitz und brannte ihn in der Flamme hart. Dieſen Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Miſte, deſſen es haufenweiſe in der Höhle gab. Dann loosten meine Genoſſen, wer es wagen ſollte, den Brandpfahl dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapferſten der Freunde, die ich mir ſelbſt ausgewählt hätte, und der fünfte war ich. Am Abend kam der gräßliche Hirte mit ſeiner Heerde heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, ſondern trieb alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/152
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/152>, abgerufen am 25.11.2024.