Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

zu seyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬
det hast, soll es dir weder an Kleidung noch an sonst
etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann.
Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen
unseres Volkes sagen. Phäaken sind es, die diese Felder
und dieses Reich bewohnen; ich selbst bin die Tochter
des hohen Königes Alcinous." So sprach sie und rief
die dienenden Mädchen, indem sie ihnen Muth einflößte
und wegen des Fremdlings sie zu beruhigen suchte. Die
Mägde aber standen und ermahnten eine die andere, hin¬
zuzutreten. Endlich gehorchten sie der Fürstin, und nach¬
dem sich Odysseus an einem versteckten Orte des Ufers
gebadet, legten sie ihm Mantel und Leibrock, die sie aus
den Gewanden hervorsuchten, zur Bedeckung in das Ge¬
büsch. Als der Held sich den Schmutz vom Leibe ge¬
waschen und sich gesalbt hatte, zog er die Kleider an,
die ihm die Fürstentochter geschenkt hatte und die ihm
wohl zu Leibe saßen. Dazu machte seine Beschützerin
Athene, daß er schöner und völliger von Gestalt anzu¬
schauen war; von dem Scheitel goß sie ihm schön ge¬
ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von
Anmuth. So in Schönheit strahlend trat er aus dem
Ufergebüsche und setzte sich seitwärts von den Jungfrauen.

Nausikaa betrachtete die herrliche Gestalt mit Stau¬
nen und begann zu ihren Begleiterinnen: "Diesen Mann
verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß
mit ihm seyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬
ken gebracht. Wie unansehnlich erschien er anfangs, als
wir ihn zuerst erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er
den Bewohnern des Himmels selbst! Wohnte doch ein
solcher Mann unter unserem Volke und wäre ein solcher

zu ſeyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬
det haſt, ſoll es dir weder an Kleidung noch an ſonſt
etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann.
Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen
unſeres Volkes ſagen. Phäaken ſind es, die dieſe Felder
und dieſes Reich bewohnen; ich ſelbſt bin die Tochter
des hohen Königes Alcinous.“ So ſprach ſie und rief
die dienenden Mädchen, indem ſie ihnen Muth einflößte
und wegen des Fremdlings ſie zu beruhigen ſuchte. Die
Mägde aber ſtanden und ermahnten eine die andere, hin¬
zuzutreten. Endlich gehorchten ſie der Fürſtin, und nach¬
dem ſich Odyſſeus an einem verſteckten Orte des Ufers
gebadet, legten ſie ihm Mantel und Leibrock, die ſie aus
den Gewanden hervorſuchten, zur Bedeckung in das Ge¬
büſch. Als der Held ſich den Schmutz vom Leibe ge¬
waſchen und ſich geſalbt hatte, zog er die Kleider an,
die ihm die Fürſtentochter geſchenkt hatte und die ihm
wohl zu Leibe ſaßen. Dazu machte ſeine Beſchützerin
Athene, daß er ſchöner und völliger von Geſtalt anzu¬
ſchauen war; von dem Scheitel goß ſie ihm ſchön ge¬
ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von
Anmuth. So in Schönheit ſtrahlend trat er aus dem
Ufergebüſche und ſetzte ſich ſeitwärts von den Jungfrauen.

Nauſikaa betrachtete die herrliche Geſtalt mit Stau¬
nen und begann zu ihren Begleiterinnen: „Dieſen Mann
verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß
mit ihm ſeyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬
ken gebracht. Wie unanſehnlich erſchien er anfangs, als
wir ihn zuerſt erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er
den Bewohnern des Himmels ſelbſt! Wohnte doch ein
ſolcher Mann unter unſerem Volke und wäre ein ſolcher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0127" n="105"/>
zu &#x017F;eyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬<lb/>
det ha&#x017F;t, &#x017F;oll es dir weder an Kleidung noch an &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann.<lb/>
Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen<lb/>
un&#x017F;eres Volkes &#x017F;agen. Phäaken &#x017F;ind es, die die&#x017F;e Felder<lb/>
und die&#x017F;es Reich bewohnen; ich &#x017F;elb&#x017F;t bin die Tochter<lb/>
des hohen Königes Alcinous.&#x201C; So &#x017F;prach &#x017F;ie und rief<lb/>
die dienenden Mädchen, indem &#x017F;ie ihnen Muth einflößte<lb/>
und wegen des Fremdlings &#x017F;ie zu beruhigen &#x017F;uchte. Die<lb/>
Mägde aber &#x017F;tanden und ermahnten eine die andere, hin¬<lb/>
zuzutreten. Endlich gehorchten &#x017F;ie der Für&#x017F;tin, und nach¬<lb/>
dem &#x017F;ich Ody&#x017F;&#x017F;eus an einem ver&#x017F;teckten Orte des Ufers<lb/>
gebadet, legten &#x017F;ie ihm Mantel und Leibrock, die &#x017F;ie aus<lb/>
den Gewanden hervor&#x017F;uchten, zur Bedeckung in das Ge¬<lb/>&#x017F;ch. Als der Held &#x017F;ich den Schmutz vom Leibe ge¬<lb/>
wa&#x017F;chen und &#x017F;ich ge&#x017F;albt hatte, zog er die Kleider an,<lb/>
die ihm die Für&#x017F;tentochter ge&#x017F;chenkt hatte und die ihm<lb/>
wohl zu Leibe &#x017F;aßen. Dazu machte &#x017F;eine Be&#x017F;chützerin<lb/>
Athene, daß er &#x017F;chöner und völliger von Ge&#x017F;talt anzu¬<lb/>
&#x017F;chauen war; von dem Scheitel goß &#x017F;ie ihm &#x017F;chön ge¬<lb/>
ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von<lb/>
Anmuth. So in Schönheit &#x017F;trahlend trat er aus dem<lb/>
Ufergebü&#x017F;che und &#x017F;etzte &#x017F;ich &#x017F;eitwärts von den Jungfrauen.</p><lb/>
            <p>Nau&#x017F;ikaa betrachtete die herrliche Ge&#x017F;talt mit Stau¬<lb/>
nen und begann zu ihren Begleiterinnen: &#x201E;Die&#x017F;en Mann<lb/>
verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß<lb/>
mit ihm &#x017F;eyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬<lb/>
ken gebracht. Wie unan&#x017F;ehnlich er&#x017F;chien er anfangs, als<lb/>
wir ihn zuer&#x017F;t erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er<lb/>
den Bewohnern des Himmels &#x017F;elb&#x017F;t! Wohnte doch ein<lb/>
&#x017F;olcher Mann unter un&#x017F;erem Volke und wäre ein &#x017F;olcher<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0127] zu ſeyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬ det haſt, ſoll es dir weder an Kleidung noch an ſonſt etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann. Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen unſeres Volkes ſagen. Phäaken ſind es, die dieſe Felder und dieſes Reich bewohnen; ich ſelbſt bin die Tochter des hohen Königes Alcinous.“ So ſprach ſie und rief die dienenden Mädchen, indem ſie ihnen Muth einflößte und wegen des Fremdlings ſie zu beruhigen ſuchte. Die Mägde aber ſtanden und ermahnten eine die andere, hin¬ zuzutreten. Endlich gehorchten ſie der Fürſtin, und nach¬ dem ſich Odyſſeus an einem verſteckten Orte des Ufers gebadet, legten ſie ihm Mantel und Leibrock, die ſie aus den Gewanden hervorſuchten, zur Bedeckung in das Ge¬ büſch. Als der Held ſich den Schmutz vom Leibe ge¬ waſchen und ſich geſalbt hatte, zog er die Kleider an, die ihm die Fürſtentochter geſchenkt hatte und die ihm wohl zu Leibe ſaßen. Dazu machte ſeine Beſchützerin Athene, daß er ſchöner und völliger von Geſtalt anzu¬ ſchauen war; von dem Scheitel goß ſie ihm ſchön ge¬ ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von Anmuth. So in Schönheit ſtrahlend trat er aus dem Ufergebüſche und ſetzte ſich ſeitwärts von den Jungfrauen. Nauſikaa betrachtete die herrliche Geſtalt mit Stau¬ nen und begann zu ihren Begleiterinnen: „Dieſen Mann verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß mit ihm ſeyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬ ken gebracht. Wie unanſehnlich erſchien er anfangs, als wir ihn zuerſt erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er den Bewohnern des Himmels ſelbſt! Wohnte doch ein ſolcher Mann unter unſerem Volke und wäre ein ſolcher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/127
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/127>, abgerufen am 25.11.2024.