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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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sind, treten sie später schimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner
zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der nicht Einsicht
und Verstand hat, und dieselben auch in den schwierigsten
Lagen des Lebens nicht verliert!"

Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders
waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen.
"Was schnaubst du so schrecklich," entgegnete er ihm, "was
ist dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt
dich denn; was vermissest du denn? Deine liebenswürdige
Gattin Helena? Ich kann sie dir nicht wieder verschaffen!
Warum hast du deines Eigenthums nicht besser wahrge¬
nommen? Bin ich denn thöricht, wenn ich einen Mißgriff
durch Besinnung wieder gutgemacht habe? Viel eher han¬
delst Du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand
eines falschen Weibes trachtest, anstatt daß du froh seyn
solltest, ihrer los geworden zu seyn. Nein, nimmermehr
entschließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüthen.
Weit besser stände dir selbst die gerechte Züchtigung deines
buhlerischen Weibes an."

So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor
ihnen erschien, und dem Fürsten Agamemnon die Ankunft
seiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und sein
kleiner Sohn Orestes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte
der Bote sich wieder entfernt, so überließ sich Agamemnon
einer so trostlosen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß
Menelaus selbst, der bei Ankunft der Botschaft auf die
Seite getreten war, jetzt sich dem Bruder wieder näherte
und nach seiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte sie
ihm wehmüthig dar und sprach unter heißen Thränen:
"Da hast du sie, Bruder; der Sieg ist dein! Ich bin

Schwab, das klass. Alterthum. II. 3

ſind, treten ſie ſpäter ſchimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner
zum Heeresfürſten und Staatenlenker, der nicht Einſicht
und Verſtand hat, und dieſelben auch in den ſchwierigſten
Lagen des Lebens nicht verliert!“

Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders
waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen.
„Was ſchnaubſt du ſo ſchrecklich,“ entgegnete er ihm, „was
iſt dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt
dich denn; was vermiſſeſt du denn? Deine liebenswürdige
Gattin Helena? Ich kann ſie dir nicht wieder verſchaffen!
Warum haſt du deines Eigenthums nicht beſſer wahrge¬
nommen? Bin ich denn thöricht, wenn ich einen Mißgriff
durch Beſinnung wieder gutgemacht habe? Viel eher han¬
delſt Du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand
eines falſchen Weibes trachteſt, anſtatt daß du froh ſeyn
ſollteſt, ihrer los geworden zu ſeyn. Nein, nimmermehr
entſchließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüthen.
Weit beſſer ſtände dir ſelbſt die gerechte Züchtigung deines
buhleriſchen Weibes an.“

So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor
ihnen erſchien, und dem Fürſten Agamemnon die Ankunft
ſeiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und ſein
kleiner Sohn Oreſtes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte
der Bote ſich wieder entfernt, ſo überließ ſich Agamemnon
einer ſo troſtloſen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß
Menelaus ſelbſt, der bei Ankunft der Botſchaft auf die
Seite getreten war, jetzt ſich dem Bruder wieder näherte
und nach ſeiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte ſie
ihm wehmüthig dar und ſprach unter heißen Thränen:
„Da haſt du ſie, Bruder; der Sieg iſt dein! Ich bin

Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 3
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[33/0055] ſind, treten ſie ſpäter ſchimpflich zurück, wenn es gilt, das Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürſten und Staatenlenker, der nicht Einſicht und Verſtand hat, und dieſelben auch in den ſchwierigſten Lagen des Lebens nicht verliert!“ Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu beruhigen. „Was ſchnaubſt du ſo ſchrecklich,“ entgegnete er ihm, „was iſt dein Auge wie mit Blut unterlaufen? Wer beleidigt dich denn; was vermiſſeſt du denn? Deine liebenswürdige Gattin Helena? Ich kann ſie dir nicht wieder verſchaffen! Warum haſt du deines Eigenthums nicht beſſer wahrge¬ nommen? Bin ich denn thöricht, wenn ich einen Mißgriff durch Beſinnung wieder gutgemacht habe? Viel eher han¬ delſt Du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falſchen Weibes trachteſt, anſtatt daß du froh ſeyn ſollteſt, ihrer los geworden zu ſeyn. Nein, nimmermehr entſchließe ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüthen. Weit beſſer ſtände dir ſelbſt die gerechte Züchtigung deines buhleriſchen Weibes an.“ So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erſchien, und dem Fürſten Agamemnon die Ankunft ſeiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und ſein kleiner Sohn Oreſtes auf dem Fuße folgten. Kaum hatte der Bote ſich wieder entfernt, ſo überließ ſich Agamemnon einer ſo troſtloſen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaus ſelbſt, der bei Ankunft der Botſchaft auf die Seite getreten war, jetzt ſich dem Bruder wieder näherte und nach ſeiner rechten Hand griff. Agamemnon reichte ſie ihm wehmüthig dar und ſprach unter heißen Thränen: „Da haſt du ſie, Bruder; der Sieg iſt dein! Ich bin Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 3

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/55>, abgerufen am 25.04.2024.