die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüstet, mit Schiffen, Roß und Wagen beisammen war, und der Seezug nun vor sich gehen sollte, dem versam¬ melten Heere tiefe Windstille zu, so daß man ohne Ziel und Fahrt müssig in Aulis sitzen mußte. Die rathsbedürf¬ tigen Griechen wandten sich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Thestor, welcher dem Volke schon früher wesentliche Dienste geleistet hatte, und jetzt erschienen war, als Priester und Wahrsager den Feldzug mitzumachen. Dieser that auch jetzt den Ausspruch: "wenn der oberste Führer der Griechen, der Fürst Agamemnon, Iphigenia, sein und Klytämnestra's geliebtes Kind, der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt seyn, Fahrwind wird kommen und der Zerstörung Troja's wird kein übernatürliches Hin¬ derniß mehr im Wege stehen."
Diese Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Muth. Sogleich beschied er den Herold der versammelten Griechen, Talthybius aus Sparta, zu sich und ließ denselben mit hellem Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechische Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf sein Gewissen laden wolle. Aber unter den versammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieses Entschlusses eine wilde Empörung auszubrechen. Menelaus begab sich mit dieser Schreckensnachricht zu seinem Bruder in das Feldherrnzelt, stellte ihm die Folgen seiner Entschließung, die Schmach, die ihn, den Menelaus, treffen würde, wenn sein geraubtes Weib Helena in Feindes¬ händen bleiben sollte, vor, und bot so beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon sich entschloß, den Greuel geschehen zu lassen. Er sandte an seine Gemahlin
die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüſtet, mit Schiffen, Roß und Wagen beiſammen war, und der Seezug nun vor ſich gehen ſollte, dem verſam¬ melten Heere tiefe Windſtille zu, ſo daß man ohne Ziel und Fahrt müſſig in Aulis ſitzen mußte. Die rathsbedürf¬ tigen Griechen wandten ſich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Theſtor, welcher dem Volke ſchon früher weſentliche Dienſte geleiſtet hatte, und jetzt erſchienen war, als Prieſter und Wahrſager den Feldzug mitzumachen. Dieſer that auch jetzt den Ausſpruch: „wenn der oberſte Führer der Griechen, der Fürſt Agamemnon, Iphigenia, ſein und Klytämneſtra's geliebtes Kind, der Artemis opfert, ſo wird die Göttin verſöhnt ſeyn, Fahrwind wird kommen und der Zerſtörung Troja's wird kein übernatürliches Hin¬ derniß mehr im Wege ſtehen.“
Dieſe Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Muth. Sogleich beſchied er den Herold der verſammelten Griechen, Talthybius aus Sparta, zu ſich und ließ denſelben mit hellem Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechiſche Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf ſein Gewiſſen laden wolle. Aber unter den verſammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieſes Entſchluſſes eine wilde Empörung auszubrechen. Menelaus begab ſich mit dieſer Schreckensnachricht zu ſeinem Bruder in das Feldherrnzelt, ſtellte ihm die Folgen ſeiner Entſchließung, die Schmach, die ihn, den Menelaus, treffen würde, wenn ſein geraubtes Weib Helena in Feindes¬ händen bleiben ſollte, vor, und bot ſo beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon ſich entſchloß, den Greuel geſchehen zu laſſen. Er ſandte an ſeine Gemahlin
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die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk
gerüſtet, mit Schiffen, Roß und Wagen beiſammen war,
und der Seezug nun vor ſich gehen ſollte, dem verſam¬
melten Heere tiefe Windſtille zu, ſo daß man ohne Ziel
und Fahrt müſſig in Aulis ſitzen mußte. Die rathsbedürf¬
tigen Griechen wandten ſich nun an ihren Seher Kalchas,
den Sohn des Theſtor, welcher dem Volke ſchon früher
weſentliche Dienſte geleiſtet hatte, und jetzt erſchienen war,
als Prieſter und Wahrſager den Feldzug mitzumachen.
Dieſer that auch jetzt den Ausſpruch: „wenn der oberſte
Führer der Griechen, der Fürſt Agamemnon, Iphigenia,
ſein und Klytämneſtra's geliebtes Kind, der Artemis opfert,
ſo wird die Göttin verſöhnt ſeyn, Fahrwind wird kommen
und der Zerſtörung Troja's wird kein übernatürliches Hin¬
derniß mehr im Wege ſtehen.“
Dieſe Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der
Griechen allen Muth. Sogleich beſchied er den Herold
der verſammelten Griechen, Talthybius aus Sparta, zu
ſich und ließ denſelben mit hellem Heroldsruf vor allen
Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl
über das griechiſche Heer niedergelegt habe, weil er keinen
Kindesmord auf ſein Gewiſſen laden wolle. Aber unter
den verſammelten Griechen drohte auf die Verkündigung
dieſes Entſchluſſes eine wilde Empörung auszubrechen.
Menelaus begab ſich mit dieſer Schreckensnachricht zu ſeinem
Bruder in das Feldherrnzelt, ſtellte ihm die Folgen ſeiner
Entſchließung, die Schmach, die ihn, den Menelaus, treffen
würde, wenn ſein geraubtes Weib Helena in Feindes¬
händen bleiben ſollte, vor, und bot ſo beredt alle Gründe
auf, daß endlich Agamemnon ſich entſchloß, den Greuel
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/52>, abgerufen am 22.11.2024.
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