Stelle bald wieder gefunden, und Odysseus traf noch Alles wie das erstemal. Aber die Wohnung war leer, nur eine breite Streu aus Laub, wie von einem Ruhen¬ den zusammengedrückt, ein kunstlos geschnitzter Becher aus Holz und etwas Feuergeräthe deuteten auf einen Bewoh¬ ner; und in der Sonne lagen Lumpen voll Eiters aus¬ gebreitet, die sie nicht zweifeln ließen, daß der kranke Philoktetes noch der Bewohner sey. Das Erste, was sie thaten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgesandt wurde, damit der Kranke sie nicht überraschen könnte. "Benützen wir," sprach Odysseus zu dem jungen Sohne des Achilles, "die Abwesenheit des Mannes, um unsern Plan mit ihm zu verabreden, denn nur durch Täuschung können wir uns seiner bemächtigen. Bei eurer ersten Zu¬ sammenkunft darf ich nicht zugegen seyn; haßt er mich doch tödtlich, und mit Recht! Sobald er dich nun frägt, wer du seyest und von wannen du kommest, sagst du ehrlich, du seyest der Sohn des Achilles. Dann aber dichtest du noch weiter hinzu, du habest dich zürnend von den Griechen abgewandt und seyest auf der Fahrt nach der Heimath begriffen. Denn diese, die dich von Scyros nach Troja flehend herbeigeholt, um ihnen diese Stadt erobern zu helfen, haben dir die Waffen deines Vaters verweigert und sie mir, dem Odysseus, gegeben. Häufe nur so viel Schimpf auf mich, als dir einfällt; mich kränkt es nicht, und ohne diese List bekommen wir den Mann und die Pfeile nicht. Darum mußt du darauf denken, wie du ihm dieß unbesiegbare Geschoß entwenden magst." Hier fiel ihm Neoptolemus ins Wort: "Sohn des Laertes," sprach er, "eine That, die ich ohne Abscheu nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu thun, weder
Schwab, das klass. Alterthum. II. 25
Stelle bald wieder gefunden, und Odyſſeus traf noch Alles wie das erſtemal. Aber die Wohnung war leer, nur eine breite Streu aus Laub, wie von einem Ruhen¬ den zuſammengedrückt, ein kunſtlos geſchnitzter Becher aus Holz und etwas Feuergeräthe deuteten auf einen Bewoh¬ ner; und in der Sonne lagen Lumpen voll Eiters aus¬ gebreitet, die ſie nicht zweifeln ließen, daß der kranke Philoktetes noch der Bewohner ſey. Das Erſte, was ſie thaten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgeſandt wurde, damit der Kranke ſie nicht überraſchen könnte. „Benützen wir,“ ſprach Odyſſeus zu dem jungen Sohne des Achilles, „die Abweſenheit des Mannes, um unſern Plan mit ihm zu verabreden, denn nur durch Täuſchung können wir uns ſeiner bemächtigen. Bei eurer erſten Zu¬ ſammenkunft darf ich nicht zugegen ſeyn; haßt er mich doch tödtlich, und mit Recht! Sobald er dich nun frägt, wer du ſeyeſt und von wannen du kommeſt, ſagſt du ehrlich, du ſeyeſt der Sohn des Achilles. Dann aber dichteſt du noch weiter hinzu, du habeſt dich zürnend von den Griechen abgewandt und ſeyeſt auf der Fahrt nach der Heimath begriffen. Denn dieſe, die dich von Scyros nach Troja flehend herbeigeholt, um ihnen dieſe Stadt erobern zu helfen, haben dir die Waffen deines Vaters verweigert und ſie mir, dem Odyſſeus, gegeben. Häufe nur ſo viel Schimpf auf mich, als dir einfällt; mich kränkt es nicht, und ohne dieſe Liſt bekommen wir den Mann und die Pfeile nicht. Darum mußt du darauf denken, wie du ihm dieß unbeſiegbare Geſchoß entwenden magſt.“ Hier fiel ihm Neoptolemus ins Wort: „Sohn des Laertes,“ ſprach er, „eine That, die ich ohne Abſcheu nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu thun, weder
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 25
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0407"n="385"/>
Stelle bald wieder gefunden, und Odyſſeus traf noch<lb/>
Alles wie das erſtemal. Aber die Wohnung war leer,<lb/>
nur eine breite Streu aus Laub, wie von einem Ruhen¬<lb/>
den zuſammengedrückt, ein kunſtlos geſchnitzter Becher aus<lb/>
Holz und etwas Feuergeräthe deuteten auf einen Bewoh¬<lb/>
ner; und in der Sonne lagen Lumpen voll Eiters aus¬<lb/>
gebreitet, die ſie nicht zweifeln ließen, daß der kranke<lb/>
Philoktetes noch der Bewohner ſey. Das Erſte, was ſie<lb/>
thaten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgeſandt<lb/>
wurde, damit der Kranke ſie nicht überraſchen könnte.<lb/>„Benützen wir,“ſprach Odyſſeus zu dem jungen Sohne<lb/>
des Achilles, „die Abweſenheit des Mannes, um unſern<lb/>
Plan mit ihm zu verabreden, denn nur durch Täuſchung<lb/>
können wir uns ſeiner bemächtigen. Bei eurer erſten Zu¬<lb/>ſammenkunft darf ich nicht zugegen ſeyn; haßt er mich<lb/>
doch tödtlich, und mit Recht! Sobald er dich nun frägt,<lb/>
wer du ſeyeſt und von wannen du kommeſt, ſagſt du<lb/>
ehrlich, du ſeyeſt der Sohn des Achilles. Dann aber<lb/>
dichteſt du noch weiter hinzu, du habeſt dich zürnend von<lb/>
den Griechen abgewandt und ſeyeſt auf der Fahrt nach<lb/>
der Heimath begriffen. Denn dieſe, die dich von Scyros<lb/>
nach Troja flehend herbeigeholt, um ihnen dieſe Stadt<lb/>
erobern zu helfen, haben dir die Waffen deines Vaters<lb/>
verweigert und ſie mir, dem Odyſſeus, gegeben. Häufe<lb/>
nur ſo viel Schimpf auf mich, als dir einfällt; mich<lb/>
kränkt es nicht, und ohne dieſe Liſt bekommen wir den<lb/>
Mann und die Pfeile nicht. Darum mußt du darauf<lb/>
denken, wie du ihm dieß unbeſiegbare Geſchoß entwenden<lb/>
magſt.“ Hier fiel ihm Neoptolemus ins Wort: „Sohn<lb/>
des Laertes,“ſprach er, „eine That, die ich ohne Abſcheu<lb/>
nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu thun, weder<lb/><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Schwab</hi>, das klaſſ. Alterthum. <hirendition="#aq">II</hi>. 25<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[385/0407]
Stelle bald wieder gefunden, und Odyſſeus traf noch
Alles wie das erſtemal. Aber die Wohnung war leer,
nur eine breite Streu aus Laub, wie von einem Ruhen¬
den zuſammengedrückt, ein kunſtlos geſchnitzter Becher aus
Holz und etwas Feuergeräthe deuteten auf einen Bewoh¬
ner; und in der Sonne lagen Lumpen voll Eiters aus¬
gebreitet, die ſie nicht zweifeln ließen, daß der kranke
Philoktetes noch der Bewohner ſey. Das Erſte, was ſie
thaten, war, daß ein Diener auf die Lauer ausgeſandt
wurde, damit der Kranke ſie nicht überraſchen könnte.
„Benützen wir,“ ſprach Odyſſeus zu dem jungen Sohne
des Achilles, „die Abweſenheit des Mannes, um unſern
Plan mit ihm zu verabreden, denn nur durch Täuſchung
können wir uns ſeiner bemächtigen. Bei eurer erſten Zu¬
ſammenkunft darf ich nicht zugegen ſeyn; haßt er mich
doch tödtlich, und mit Recht! Sobald er dich nun frägt,
wer du ſeyeſt und von wannen du kommeſt, ſagſt du
ehrlich, du ſeyeſt der Sohn des Achilles. Dann aber
dichteſt du noch weiter hinzu, du habeſt dich zürnend von
den Griechen abgewandt und ſeyeſt auf der Fahrt nach
der Heimath begriffen. Denn dieſe, die dich von Scyros
nach Troja flehend herbeigeholt, um ihnen dieſe Stadt
erobern zu helfen, haben dir die Waffen deines Vaters
verweigert und ſie mir, dem Odyſſeus, gegeben. Häufe
nur ſo viel Schimpf auf mich, als dir einfällt; mich
kränkt es nicht, und ohne dieſe Liſt bekommen wir den
Mann und die Pfeile nicht. Darum mußt du darauf
denken, wie du ihm dieß unbeſiegbare Geſchoß entwenden
magſt.“ Hier fiel ihm Neoptolemus ins Wort: „Sohn
des Laertes,“ ſprach er, „eine That, die ich ohne Abſcheu
nicht hören kann, vermag ich auch nicht zu thun, weder
Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 25
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/407>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.