Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Schlachtfeld, das Ajax sich dort geschaffen. In Ver¬
zweiflung eilte sie zu dem Zelte zurück und fand ihn hier
beschämt und verzweifelnd, bald nach seinem Bruder Teucer
und nach seinem Kinde Eurysaces rufend, bald nach einem
edeln Untergange begehrend. Tekmessa nahte sich ihm
unter Thränen, umfaßte seine Kniee und flehte ihn an, sie,
seine Lebensgenossin, nicht allein zu lassen, als eine Ge¬
fangene unter Feinden; sie hieß ihn auch des greisen Va¬
ters und der Mutter in Salamis gedenken, streckte ihm
seinen Knaben entgegen und erinnerte ihn daran, welches
Loos das Kind treffen würde, wenn es von harter Vor¬
mundschaft gedrückt, der Jugendaufsicht beraubt, ohne
Vater heranwachsen müßte. Der Held griff mit einer
heftigen Bewegung nach seinem Sohne, herzte ihn und
sprach: "O Kind, übertriff an Glück deinen Vater, in
allem Andern gleiche ihm, so wirst du wahrlich kein schlech¬
ter Mann. An meinem Halbbruder Teucer hast du ge¬
wiß einen guten Pfleger, jetzt aber sollen dich meine
Schildträger zu meinen Eltern Telamon und Eriböa nach
Salamis bringen, wo du die Lust ihres Alters sein magst,
bis auch sie zur Unterwelt hinabgehen." Damit reichte er
das Kind den Dienern, empfahl durch sie auch seine ge¬
liebte Tekmessa dem Halbbruder, riß sich aus ihren
Umarmungen los, zog das Schwert, das ihm einst sein
Feind Hektor als Gastgenosse geschenkt hatte, und pflanzte
es in den Boden seines Zeltes. Dann hob er die Hände
gen Himmel und betete: "Um eine bescheidene Wohlthat
flehe ich zu dir, Vater Zeus: sende mir meinen Bruder
Teucer her, so bald ich gefallen bin, daß nicht mein Feind
mich zuvor aufspüre, und mich den Hunden und Vögeln
zum Fraß vorwerfe. Euch aber, ihr Furien, rufe ich an:

Schlachtfeld, das Ajax ſich dort geſchaffen. In Ver¬
zweiflung eilte ſie zu dem Zelte zurück und fand ihn hier
beſchämt und verzweifelnd, bald nach ſeinem Bruder Teucer
und nach ſeinem Kinde Euryſaces rufend, bald nach einem
edeln Untergange begehrend. Tekmeſſa nahte ſich ihm
unter Thränen, umfaßte ſeine Kniee und flehte ihn an, ſie,
ſeine Lebensgenoſſin, nicht allein zu laſſen, als eine Ge¬
fangene unter Feinden; ſie hieß ihn auch des greiſen Va¬
ters und der Mutter in Salamis gedenken, ſtreckte ihm
ſeinen Knaben entgegen und erinnerte ihn daran, welches
Loos das Kind treffen würde, wenn es von harter Vor¬
mundſchaft gedrückt, der Jugendaufſicht beraubt, ohne
Vater heranwachſen müßte. Der Held griff mit einer
heftigen Bewegung nach ſeinem Sohne, herzte ihn und
ſprach: „O Kind, übertriff an Glück deinen Vater, in
allem Andern gleiche ihm, ſo wirſt du wahrlich kein ſchlech¬
ter Mann. An meinem Halbbruder Teucer haſt du ge¬
wiß einen guten Pfleger, jetzt aber ſollen dich meine
Schildträger zu meinen Eltern Telamon und Eriböa nach
Salamis bringen, wo du die Luſt ihres Alters ſein magſt,
bis auch ſie zur Unterwelt hinabgehen.“ Damit reichte er
das Kind den Dienern, empfahl durch ſie auch ſeine ge¬
liebte Tekmeſſa dem Halbbruder, riß ſich aus ihren
Umarmungen los, zog das Schwert, das ihm einſt ſein
Feind Hektor als Gaſtgenoſſe geſchenkt hatte, und pflanzte
es in den Boden ſeines Zeltes. Dann hob er die Hände
gen Himmel und betete: „Um eine beſcheidene Wohlthat
flehe ich zu dir, Vater Zeus: ſende mir meinen Bruder
Teucer her, ſo bald ich gefallen bin, daß nicht mein Feind
mich zuvor aufſpüre, und mich den Hunden und Vögeln
zum Fraß vorwerfe. Euch aber, ihr Furien, rufe ich an:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0387" n="365"/>
Schlachtfeld, das Ajax &#x017F;ich dort ge&#x017F;chaffen. In Ver¬<lb/>
zweiflung eilte &#x017F;ie zu dem Zelte zurück und fand ihn hier<lb/>
be&#x017F;chämt und verzweifelnd, bald nach &#x017F;einem Bruder Teucer<lb/>
und nach &#x017F;einem Kinde Eury&#x017F;aces rufend, bald nach einem<lb/>
edeln Untergange begehrend. Tekme&#x017F;&#x017F;a nahte &#x017F;ich ihm<lb/>
unter Thränen, umfaßte &#x017F;eine Kniee und flehte ihn an, &#x017F;ie,<lb/>
&#x017F;eine Lebensgeno&#x017F;&#x017F;in, nicht allein zu la&#x017F;&#x017F;en, als eine Ge¬<lb/>
fangene unter Feinden; &#x017F;ie hieß ihn auch des grei&#x017F;en Va¬<lb/>
ters und der Mutter in Salamis gedenken, &#x017F;treckte ihm<lb/>
&#x017F;einen Knaben entgegen und erinnerte ihn daran, welches<lb/>
Loos das Kind treffen würde, wenn es von harter Vor¬<lb/>
mund&#x017F;chaft gedrückt, der Jugendauf&#x017F;icht beraubt, ohne<lb/>
Vater heranwach&#x017F;en müßte. Der Held griff mit einer<lb/>
heftigen Bewegung nach &#x017F;einem Sohne, herzte ihn und<lb/>
&#x017F;prach: &#x201E;O Kind, übertriff an Glück deinen Vater, in<lb/>
allem Andern gleiche ihm, &#x017F;o wir&#x017F;t du wahrlich kein &#x017F;chlech¬<lb/>
ter Mann. An meinem Halbbruder Teucer ha&#x017F;t du ge¬<lb/>
wiß einen guten Pfleger, jetzt aber &#x017F;ollen dich meine<lb/>
Schildträger zu meinen Eltern Telamon und Eriböa nach<lb/>
Salamis bringen, wo du die Lu&#x017F;t ihres Alters &#x017F;ein mag&#x017F;t,<lb/>
bis auch &#x017F;ie zur Unterwelt hinabgehen.&#x201C; Damit reichte er<lb/>
das Kind den Dienern, empfahl durch &#x017F;ie auch &#x017F;eine ge¬<lb/>
liebte Tekme&#x017F;&#x017F;a dem Halbbruder, riß &#x017F;ich aus ihren<lb/>
Umarmungen los, zog das Schwert, das ihm ein&#x017F;t &#x017F;ein<lb/>
Feind Hektor als Ga&#x017F;tgeno&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;chenkt hatte, und pflanzte<lb/>
es in den Boden &#x017F;eines Zeltes. Dann hob er die Hände<lb/>
gen Himmel und betete: &#x201E;Um eine be&#x017F;cheidene Wohlthat<lb/>
flehe ich zu dir, Vater Zeus: &#x017F;ende mir meinen Bruder<lb/>
Teucer her, &#x017F;o bald ich gefallen bin, daß nicht mein Feind<lb/>
mich zuvor auf&#x017F;püre, und mich den Hunden und Vögeln<lb/>
zum Fraß vorwerfe. Euch aber, ihr Furien, rufe ich an:<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0387] Schlachtfeld, das Ajax ſich dort geſchaffen. In Ver¬ zweiflung eilte ſie zu dem Zelte zurück und fand ihn hier beſchämt und verzweifelnd, bald nach ſeinem Bruder Teucer und nach ſeinem Kinde Euryſaces rufend, bald nach einem edeln Untergange begehrend. Tekmeſſa nahte ſich ihm unter Thränen, umfaßte ſeine Kniee und flehte ihn an, ſie, ſeine Lebensgenoſſin, nicht allein zu laſſen, als eine Ge¬ fangene unter Feinden; ſie hieß ihn auch des greiſen Va¬ ters und der Mutter in Salamis gedenken, ſtreckte ihm ſeinen Knaben entgegen und erinnerte ihn daran, welches Loos das Kind treffen würde, wenn es von harter Vor¬ mundſchaft gedrückt, der Jugendaufſicht beraubt, ohne Vater heranwachſen müßte. Der Held griff mit einer heftigen Bewegung nach ſeinem Sohne, herzte ihn und ſprach: „O Kind, übertriff an Glück deinen Vater, in allem Andern gleiche ihm, ſo wirſt du wahrlich kein ſchlech¬ ter Mann. An meinem Halbbruder Teucer haſt du ge¬ wiß einen guten Pfleger, jetzt aber ſollen dich meine Schildträger zu meinen Eltern Telamon und Eriböa nach Salamis bringen, wo du die Luſt ihres Alters ſein magſt, bis auch ſie zur Unterwelt hinabgehen.“ Damit reichte er das Kind den Dienern, empfahl durch ſie auch ſeine ge¬ liebte Tekmeſſa dem Halbbruder, riß ſich aus ihren Umarmungen los, zog das Schwert, das ihm einſt ſein Feind Hektor als Gaſtgenoſſe geſchenkt hatte, und pflanzte es in den Boden ſeines Zeltes. Dann hob er die Hände gen Himmel und betete: „Um eine beſcheidene Wohlthat flehe ich zu dir, Vater Zeus: ſende mir meinen Bruder Teucer her, ſo bald ich gefallen bin, daß nicht mein Feind mich zuvor aufſpüre, und mich den Hunden und Vögeln zum Fraß vorwerfe. Euch aber, ihr Furien, rufe ich an:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/387
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/387>, abgerufen am 22.11.2024.