vernunftlos, und kein blinder Frevler; er wird von selbst des Flehenden schonen, und alles Leid von dir abwehren."
Priamus vertraute den Worten der Göttin, befahl seinen Söhnen, den Wagen mit dem Maulthiergespanne zu rüsten, und stieg dann in die duftige, mit Cedernholz getäferte Kammer hinab, in welcher viel Kostbarkeiten aufbewahrt lagen. Dorthin berief er seine Gemahlin Hekuba, und sprach zu ihr: "Armes Weib, wisse, daß mir Botschaft von Jupiter kam: ich soll zu Achilles nach den Schiffen wandeln, sein Gemüth mit Geschenken versöh¬ nen, und den Leichnam unseres lieben Sohnes Hektor ein¬ lösen. Wie däucht dir solches in deinem Herzen? mich selbst, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb nach den Schiffen zu gehen." So sprach der Greis; aber seine Gemahlin erwiederte ihm schluchzend: "Wehe mir, Priamus, wohin ist dir dein einst so gepriesener Verstand entflohen? Welch ein Gedanke, du, der Greis, allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln, und dem Manne vor Augen zu treten, der dir so viel tapfere Söhne er¬ schlagen hat! Meinst du, der Falsche, Blutgierige werde Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel besser, wir beweinen ihn fern, zu Hause, ihn, dem das Geschick schon bei der Geburt bestimmt hat, von den Hunden ver¬ zehrt zu werden!" "Halte mich nicht," antwortete Pria¬ mus entschlossen, "werde mir nicht selbst im Hause zum drohenden Unglücksvogel: und erwartete mich auch der Tod bei den Schiffen, der Wütherich mag mich ermor¬ den, wenn ich nur, mein Herz mit Thränen sättigend, den geliebtesten Sohn in den Armen halten darf." Unter die¬ sen Worten schlug er den Deckel von den Kisten, und wählte zwölf köstliche Feiergewande, zwölf Teppiche, eben
vernunftlos, und kein blinder Frevler; er wird von ſelbſt des Flehenden ſchonen, und alles Leid von dir abwehren.“
Priamus vertraute den Worten der Göttin, befahl ſeinen Söhnen, den Wagen mit dem Maulthiergeſpanne zu rüſten, und ſtieg dann in die duftige, mit Cedernholz getäferte Kammer hinab, in welcher viel Koſtbarkeiten aufbewahrt lagen. Dorthin berief er ſeine Gemahlin Hekuba, und ſprach zu ihr: „Armes Weib, wiſſe, daß mir Botſchaft von Jupiter kam: ich ſoll zu Achilles nach den Schiffen wandeln, ſein Gemüth mit Geſchenken verſöh¬ nen, und den Leichnam unſeres lieben Sohnes Hektor ein¬ löſen. Wie däucht dir ſolches in deinem Herzen? mich ſelbſt, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb nach den Schiffen zu gehen.“ So ſprach der Greis; aber ſeine Gemahlin erwiederte ihm ſchluchzend: „Wehe mir, Priamus, wohin iſt dir dein einſt ſo geprieſener Verſtand entflohen? Welch ein Gedanke, du, der Greis, allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln, und dem Manne vor Augen zu treten, der dir ſo viel tapfere Söhne er¬ ſchlagen hat! Meinſt du, der Falſche, Blutgierige werde Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel beſſer, wir beweinen ihn fern, zu Hauſe, ihn, dem das Geſchick ſchon bei der Geburt beſtimmt hat, von den Hunden ver¬ zehrt zu werden!“ „Halte mich nicht,“ antwortete Pria¬ mus entſchloſſen, „werde mir nicht ſelbſt im Hauſe zum drohenden Unglücksvogel: und erwartete mich auch der Tod bei den Schiffen, der Wütherich mag mich ermor¬ den, wenn ich nur, mein Herz mit Thränen ſättigend, den geliebteſten Sohn in den Armen halten darf.“ Unter die¬ ſen Worten ſchlug er den Deckel von den Kiſten, und wählte zwölf köſtliche Feiergewande, zwölf Teppiche, eben
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vernunftlos, und kein blinder Frevler; er wird von ſelbſt
des Flehenden ſchonen, und alles Leid von dir abwehren.“
Priamus vertraute den Worten der Göttin, befahl
ſeinen Söhnen, den Wagen mit dem Maulthiergeſpanne
zu rüſten, und ſtieg dann in die duftige, mit Cedernholz
getäferte Kammer hinab, in welcher viel Koſtbarkeiten
aufbewahrt lagen. Dorthin berief er ſeine Gemahlin
Hekuba, und ſprach zu ihr: „Armes Weib, wiſſe, daß mir
Botſchaft von Jupiter kam: ich ſoll zu Achilles nach den
Schiffen wandeln, ſein Gemüth mit Geſchenken verſöh¬
nen, und den Leichnam unſeres lieben Sohnes Hektor ein¬
löſen. Wie däucht dir ſolches in deinem Herzen? mich
ſelbſt, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb
nach den Schiffen zu gehen.“ So ſprach der Greis; aber
ſeine Gemahlin erwiederte ihm ſchluchzend: „Wehe mir,
Priamus, wohin iſt dir dein einſt ſo geprieſener Verſtand
entflohen? Welch ein Gedanke, du, der Greis, allein zu
den Schiffen der Danaer zu wandeln, und dem Manne
vor Augen zu treten, der dir ſo viel tapfere Söhne er¬
ſchlagen hat! Meinſt du, der Falſche, Blutgierige werde
Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel beſſer,
wir beweinen ihn fern, zu Hauſe, ihn, dem das Geſchick
ſchon bei der Geburt beſtimmt hat, von den Hunden ver¬
zehrt zu werden!“ „Halte mich nicht,“ antwortete Pria¬
mus entſchloſſen, „werde mir nicht ſelbſt im Hauſe zum
drohenden Unglücksvogel: und erwartete mich auch der
Tod bei den Schiffen, der Wütherich mag mich ermor¬
den, wenn ich nur, mein Herz mit Thränen ſättigend, den
geliebteſten Sohn in den Armen halten darf.“ Unter die¬
ſen Worten ſchlug er den Deckel von den Kiſten, und
wählte zwölf köſtliche Feiergewande, zwölf Teppiche, eben
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/324>, abgerufen am 22.11.2024.
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