Mit solchen Worten wandte sich der Grausame dem Leichnam aufs Neue zu, durchbohrte ihm an beiden Füßen die Sehnen zwischen Knöchel und Fersen, durchzog sie mit Riemen von Stierhaut, band sie am Wagensitze fest, schwang sich in den Wagen, und trieb seine Rosse mit der Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachschleppend. Staubgewölk umwallte den Geschleiften, sein jüngst noch so liebliches Haupt zog mit zerrüttetem Haar eine breite Furche durch den Staub. Von der Mauer herab erblickte seine Mutter Hekuba das grauenvolle Schauspiel, warf den Schleier ihres Hauptes weit von sich und sah jam¬ mernd ihrem Sohne nach. Auch der König Priamus weinte und jammerte. Geheul und Angstruf der Trojaner und der fremden Völker hallte durch die ganze Stadt. Kaum ließ sich der alte König abhalten, selbst in seinem zornigen Schmerz zum skäischen Thore hinaus zu stürmen und dem Mörder seines Sohnes nachzueilen. Er warf sich zu Boden und rief: "Hektor, Hektor! Alle andern Söhne, die mir mein Feind erschlug, vergesse ich über dir: o wärest du doch nur in meinen Armen gestorben!"
Andromache, Hektors Gemahlin, hatte von dem gan¬ zen Jammer noch nichts vernommen, ja ihr war nicht einmal ein Bote gekommen, der gemeldet hätte, daß ihr Gatte sich noch draußen vor den Thoren befinde. Ruhig saß sie in einem der Gemächer des Pallastes, und durch¬ wirkte ein schönes Purpurgewand mit bunter Stickerei. Und eben rief sie einer der Dienerinnen, einen großen Dreifuß ans Feuer zu stellen, um ihrem Gemahl ein wärmendes Bad vorzubereiten, wenn er aus der Feld¬ schlacht käme. Da vernahm sie vom Thurme her Geheul und Jammergeschrei. Finstre Ahnung im Herzen rief sie:
Mit ſolchen Worten wandte ſich der Grauſame dem Leichnam aufs Neue zu, durchbohrte ihm an beiden Füßen die Sehnen zwiſchen Knöchel und Ferſen, durchzog ſie mit Riemen von Stierhaut, band ſie am Wagenſitze feſt, ſchwang ſich in den Wagen, und trieb ſeine Roſſe mit der Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachſchleppend. Staubgewölk umwallte den Geſchleiften, ſein jüngſt noch ſo liebliches Haupt zog mit zerrüttetem Haar eine breite Furche durch den Staub. Von der Mauer herab erblickte ſeine Mutter Hekuba das grauenvolle Schauſpiel, warf den Schleier ihres Hauptes weit von ſich und ſah jam¬ mernd ihrem Sohne nach. Auch der König Priamus weinte und jammerte. Geheul und Angſtruf der Trojaner und der fremden Völker hallte durch die ganze Stadt. Kaum ließ ſich der alte König abhalten, ſelbſt in ſeinem zornigen Schmerz zum ſkäiſchen Thore hinaus zu ſtürmen und dem Mörder ſeines Sohnes nachzueilen. Er warf ſich zu Boden und rief: „Hektor, Hektor! Alle andern Söhne, die mir mein Feind erſchlug, vergeſſe ich über dir: o wäreſt du doch nur in meinen Armen geſtorben!“
Andromache, Hektors Gemahlin, hatte von dem gan¬ zen Jammer noch nichts vernommen, ja ihr war nicht einmal ein Bote gekommen, der gemeldet hätte, daß ihr Gatte ſich noch draußen vor den Thoren befinde. Ruhig ſaß ſie in einem der Gemächer des Pallaſtes, und durch¬ wirkte ein ſchönes Purpurgewand mit bunter Stickerei. Und eben rief ſie einer der Dienerinnen, einen großen Dreifuß ans Feuer zu ſtellen, um ihrem Gemahl ein wärmendes Bad vorzubereiten, wenn er aus der Feld¬ ſchlacht käme. Da vernahm ſie vom Thurme her Geheul und Jammergeſchrei. Finſtre Ahnung im Herzen rief ſie:
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Mit ſolchen Worten wandte ſich der Grauſame dem
Leichnam aufs Neue zu, durchbohrte ihm an beiden Füßen
die Sehnen zwiſchen Knöchel und Ferſen, durchzog ſie mit
Riemen von Stierhaut, band ſie am Wagenſitze feſt,
ſchwang ſich in den Wagen, und trieb ſeine Roſſe mit der
Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachſchleppend.
Staubgewölk umwallte den Geſchleiften, ſein jüngſt noch
ſo liebliches Haupt zog mit zerrüttetem Haar eine breite
Furche durch den Staub. Von der Mauer herab erblickte
ſeine Mutter Hekuba das grauenvolle Schauſpiel, warf
den Schleier ihres Hauptes weit von ſich und ſah jam¬
mernd ihrem Sohne nach. Auch der König Priamus
weinte und jammerte. Geheul und Angſtruf der Trojaner
und der fremden Völker hallte durch die ganze Stadt.
Kaum ließ ſich der alte König abhalten, ſelbſt in ſeinem
zornigen Schmerz zum ſkäiſchen Thore hinaus zu ſtürmen
und dem Mörder ſeines Sohnes nachzueilen. Er warf
ſich zu Boden und rief: „Hektor, Hektor! Alle andern
Söhne, die mir mein Feind erſchlug, vergeſſe ich über
dir: o wäreſt du doch nur in meinen Armen geſtorben!“
Andromache, Hektors Gemahlin, hatte von dem gan¬
zen Jammer noch nichts vernommen, ja ihr war nicht
einmal ein Bote gekommen, der gemeldet hätte, daß ihr
Gatte ſich noch draußen vor den Thoren befinde. Ruhig
ſaß ſie in einem der Gemächer des Pallaſtes, und durch¬
wirkte ein ſchönes Purpurgewand mit bunter Stickerei.
Und eben rief ſie einer der Dienerinnen, einen großen
Dreifuß ans Feuer zu ſtellen, um ihrem Gemahl ein
wärmendes Bad vorzubereiten, wenn er aus der Feld¬
ſchlacht käme. Da vernahm ſie vom Thurme her Geheul
und Jammergeſchrei. Finſtre Ahnung im Herzen rief ſie:
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/309>, abgerufen am 22.11.2024.
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