Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite
Achilles und Agamemnon versöhnt.

Als die Versammlung vollzählig war, stand Achilles
auf und sprach: "Sohn des Atreus, hätte lieber Diana's
Pfeil an jenem Tage die Tochter des Brises bei den
Schiffen getödtet, an dem ich sie mir aus dem zerstörten
Lyrnessus zur Beute erlesen, ehe so viele Argiver, dieweil
ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit
den Zähnen knirschen mußten! Vergessen sey das Ver¬
gangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein
Zorn wenigstens ist besänftigt. Auf nun zum Gefecht!
ich will versuchen, ob die Trojaner noch Lust haben, bei
den Schiffen zu ruhen!"

Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei diesen
Worten die Luft. Und jetzt erhub sich Agamemnon der
Völkerfürst und sprach, aufgestanden von seinem Sitze,
doch ohne, wie andere Redner, in den Kreis vorzutreten:
"Bändiget eure Zungen! wer vermag bei solchem Getüm¬
mel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne
des Peleus erklären, ihr Andern merkt's und beherziget
meine Worte. Oft schon haben mich die Söhne Griechen¬
lands über mein Betragen an jenem Unglückstage gestraft.
Doch war die Schuld nicht mein: Jupiter, die Parze und
die Erinnys schickten mir damals in der Volksversamm¬
lung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich feh¬
len. Aber so lange Hektor um die Schiffe her die Schaa¬
ren der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine
Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir
die Besinnung hinweggenommen hatte. Nun will ich

Achilles und Agamemnon verſöhnt.

Als die Verſammlung vollzählig war, ſtand Achilles
auf und ſprach: „Sohn des Atreus, hätte lieber Diana's
Pfeil an jenem Tage die Tochter des Briſes bei den
Schiffen getödtet, an dem ich ſie mir aus dem zerſtörten
Lyrneſſus zur Beute erleſen, ehe ſo viele Argiver, dieweil
ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit
den Zähnen knirſchen mußten! Vergeſſen ſey das Ver¬
gangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein
Zorn wenigſtens iſt beſänftigt. Auf nun zum Gefecht!
ich will verſuchen, ob die Trojaner noch Luſt haben, bei
den Schiffen zu ruhen!“

Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei dieſen
Worten die Luft. Und jetzt erhub ſich Agamemnon der
Völkerfürſt und ſprach, aufgeſtanden von ſeinem Sitze,
doch ohne, wie andere Redner, in den Kreis vorzutreten:
„Bändiget eure Zungen! wer vermag bei ſolchem Getüm¬
mel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne
des Peleus erklären, ihr Andern merkt's und beherziget
meine Worte. Oft ſchon haben mich die Söhne Griechen¬
lands über mein Betragen an jenem Unglückstage geſtraft.
Doch war die Schuld nicht mein: Jupiter, die Parze und
die Erinnys ſchickten mir damals in der Volksverſamm¬
lung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich feh¬
len. Aber ſo lange Hektor um die Schiffe her die Schaa¬
ren der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine
Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir
die Beſinnung hinweggenommen hatte. Nun will ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0274" n="252"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Achilles und Agamemnon ver&#x017F;öhnt.</hi><lb/>
          </head>
          <p>Als die Ver&#x017F;ammlung vollzählig war, &#x017F;tand Achilles<lb/>
auf und &#x017F;prach: &#x201E;Sohn des Atreus, hätte lieber Diana's<lb/>
Pfeil an jenem Tage die Tochter des Bri&#x017F;es bei den<lb/>
Schiffen getödtet, an dem ich &#x017F;ie mir aus dem zer&#x017F;törten<lb/>
Lyrne&#x017F;&#x017F;us zur Beute erle&#x017F;en, ehe &#x017F;o viele Argiver, dieweil<lb/>
ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit<lb/>
den Zähnen knir&#x017F;chen mußten! Verge&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ey das Ver¬<lb/>
gangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein<lb/>
Zorn wenig&#x017F;tens i&#x017F;t be&#x017F;änftigt. Auf nun zum Gefecht!<lb/>
ich will ver&#x017F;uchen, ob die Trojaner noch Lu&#x017F;t haben, bei<lb/>
den Schiffen zu ruhen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei die&#x017F;en<lb/>
Worten die Luft. Und jetzt erhub &#x017F;ich Agamemnon der<lb/>
Völkerfür&#x017F;t und &#x017F;prach, aufge&#x017F;tanden von &#x017F;einem Sitze,<lb/>
doch ohne, wie andere Redner, in den Kreis vorzutreten:<lb/>
&#x201E;Bändiget eure Zungen! wer vermag bei &#x017F;olchem Getüm¬<lb/>
mel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne<lb/>
des Peleus erklären, ihr Andern merkt's und beherziget<lb/>
meine Worte. Oft &#x017F;chon haben mich die Söhne Griechen¬<lb/>
lands über mein Betragen an jenem Unglückstage ge&#x017F;traft.<lb/>
Doch war die Schuld nicht mein: Jupiter, die Parze und<lb/>
die Erinnys &#x017F;chickten mir damals in der Volksver&#x017F;amm¬<lb/>
lung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich feh¬<lb/>
len. Aber &#x017F;o lange Hektor um die Schiffe her die Schaa¬<lb/>
ren der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine<lb/>
Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir<lb/>
die Be&#x017F;innung hinweggenommen hatte. Nun will ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0274] Achilles und Agamemnon verſöhnt. Als die Verſammlung vollzählig war, ſtand Achilles auf und ſprach: „Sohn des Atreus, hätte lieber Diana's Pfeil an jenem Tage die Tochter des Briſes bei den Schiffen getödtet, an dem ich ſie mir aus dem zerſtörten Lyrneſſus zur Beute erleſen, ehe ſo viele Argiver, dieweil ich zürnte, von den Feinden gebändigt, den Staub mit den Zähnen knirſchen mußten! Vergeſſen ſey das Ver¬ gangene, wenn es uns auch in der Seele kränkt: mein Zorn wenigſtens iſt beſänftigt. Auf nun zum Gefecht! ich will verſuchen, ob die Trojaner noch Luſt haben, bei den Schiffen zu ruhen!“ Unermeßlicher Jubel der Griechen erfüllte bei dieſen Worten die Luft. Und jetzt erhub ſich Agamemnon der Völkerfürſt und ſprach, aufgeſtanden von ſeinem Sitze, doch ohne, wie andere Redner, in den Kreis vorzutreten: „Bändiget eure Zungen! wer vermag bei ſolchem Getüm¬ mel zu reden oder zu hören? Ich will mich dem Sohne des Peleus erklären, ihr Andern merkt's und beherziget meine Worte. Oft ſchon haben mich die Söhne Griechen¬ lands über mein Betragen an jenem Unglückstage geſtraft. Doch war die Schuld nicht mein: Jupiter, die Parze und die Erinnys ſchickten mir damals in der Volksverſamm¬ lung die verderbliche Verblendung zu. So mußte ich feh¬ len. Aber ſo lange Hektor um die Schiffe her die Schaa¬ ren der Argiver vertilgte, ward ich unaufhörlich an meine Schuld gemahnt, und ich wurde es inne, daß Zeus mir die Beſinnung hinweggenommen hatte. Nun will ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/274
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/274>, abgerufen am 25.11.2024.