Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

mit dem Vorschlage, am andern Morgen den Krieg ruhen
zu lassen und nach Abschluß eines Waffenstillstandes die
Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen mit Rindern
und Maulthieren bespannt abzuholen, und abseits von den
Schiffen zu verbrennen, damit, wenn sie wieder zum Va¬
terlande heimzögen, ein Jeder den Kindern seiner Ver¬
wandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die
Könige riefen ihm ringsumher Beifall.

Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf
ihrer Burg, vor dem Pallaste des Königes, nicht ohne
Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zwei¬
kampfes zur Versammlung, und hier stand der weise An¬
tenor auf und sprach: "Höret mein Wort, ihr Trojaner
und Bundsgenossen. So lange wir treulos gegen den
heiligen Vertrag, den Pandarus gebrochen hat, kämpfen,
kann unserm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen
berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rath
nicht, daß wir die Argiverin Helena mit sammt ihren
Schätzen den Atriden ausliefern sollten." Dagegen erhub
sich Paris und erwiederte: "Wenn du im Ernste so gere¬
det hast, Antenor, so haben dir wahrhaftig die Götter
deinen Verstand geraubt; ich aber bekenne gerade heraus,
daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die
Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen sie meinet¬
halben wieder haben, und ich will freiwillig von dem
Meinigen noch hinzuthun, was sie als Buße verlangen
können!" Nach seinem Sohne sprach der greise König
Priamus mit wohlmeinender Gesinnung: "Laßt uns heute
nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! vertheilet
den Nachtimbiß unter das Heer, stellet die Wachen aus
und überlasset euch, behutsam wie immer, dem Schlafe.

mit dem Vorſchlage, am andern Morgen den Krieg ruhen
zu laſſen und nach Abſchluß eines Waffenſtillſtandes die
Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen mit Rindern
und Maulthieren beſpannt abzuholen, und abſeits von den
Schiffen zu verbrennen, damit, wenn ſie wieder zum Va¬
terlande heimzögen, ein Jeder den Kindern ſeiner Ver¬
wandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die
Könige riefen ihm ringsumher Beifall.

Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf
ihrer Burg, vor dem Pallaſte des Königes, nicht ohne
Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zwei¬
kampfes zur Verſammlung, und hier ſtand der weiſe An¬
tenor auf und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Trojaner
und Bundsgenoſſen. So lange wir treulos gegen den
heiligen Vertrag, den Pandarus gebrochen hat, kämpfen,
kann unſerm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen
berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rath
nicht, daß wir die Argiverin Helena mit ſammt ihren
Schätzen den Atriden ausliefern ſollten.“ Dagegen erhub
ſich Paris und erwiederte: „Wenn du im Ernſte ſo gere¬
det haſt, Antenor, ſo haben dir wahrhaftig die Götter
deinen Verſtand geraubt; ich aber bekenne gerade heraus,
daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die
Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen ſie meinet¬
halben wieder haben, und ich will freiwillig von dem
Meinigen noch hinzuthun, was ſie als Buße verlangen
können!“ Nach ſeinem Sohne ſprach der greiſe König
Priamus mit wohlmeinender Geſinnung: „Laßt uns heute
nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! vertheilet
den Nachtimbiß unter das Heer, ſtellet die Wachen aus
und überlaſſet euch, behutſam wie immer, dem Schlafe.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0172" n="150"/>
mit dem Vor&#x017F;chlage, am andern Morgen den Krieg ruhen<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en und nach Ab&#x017F;chluß eines Waffen&#x017F;till&#x017F;tandes die<lb/>
Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen mit Rindern<lb/>
und Maulthieren be&#x017F;pannt abzuholen, und ab&#x017F;eits von den<lb/>
Schiffen zu verbrennen, damit, wenn &#x017F;ie wieder zum Va¬<lb/>
terlande heimzögen, ein Jeder den Kindern &#x017F;einer Ver¬<lb/>
wandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die<lb/>
Könige riefen ihm ringsumher Beifall.</p><lb/>
          <p>Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf<lb/>
ihrer Burg, vor dem Palla&#x017F;te des Königes, nicht ohne<lb/>
Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zwei¬<lb/>
kampfes zur Ver&#x017F;ammlung, und hier &#x017F;tand der wei&#x017F;e An¬<lb/>
tenor auf und &#x017F;prach: &#x201E;Höret mein Wort, ihr Trojaner<lb/>
und Bundsgeno&#x017F;&#x017F;en. So lange wir treulos gegen den<lb/>
heiligen Vertrag, den Pandarus gebrochen hat, kämpfen,<lb/>
kann un&#x017F;erm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen<lb/>
berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rath<lb/>
nicht, daß wir die Argiverin Helena mit &#x017F;ammt ihren<lb/>
Schätzen den Atriden ausliefern &#x017F;ollten.&#x201C; Dagegen erhub<lb/>
&#x017F;ich Paris und erwiederte: &#x201E;Wenn du im Ern&#x017F;te &#x017F;o gere¬<lb/>
det ha&#x017F;t, Antenor, &#x017F;o haben dir wahrhaftig die Götter<lb/>
deinen Ver&#x017F;tand geraubt; ich aber bekenne gerade heraus,<lb/>
daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die<lb/>
Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen &#x017F;ie meinet¬<lb/>
halben wieder haben, und ich will freiwillig von dem<lb/>
Meinigen noch hinzuthun, was &#x017F;ie als Buße verlangen<lb/>
können!&#x201C; Nach &#x017F;einem Sohne &#x017F;prach der grei&#x017F;e König<lb/>
Priamus mit wohlmeinender Ge&#x017F;innung: &#x201E;Laßt uns heute<lb/>
nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! vertheilet<lb/>
den Nachtimbiß unter das Heer, &#x017F;tellet die Wachen aus<lb/>
und überla&#x017F;&#x017F;et euch, behut&#x017F;am wie immer, dem Schlafe.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0172] mit dem Vorſchlage, am andern Morgen den Krieg ruhen zu laſſen und nach Abſchluß eines Waffenſtillſtandes die Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen mit Rindern und Maulthieren beſpannt abzuholen, und abſeits von den Schiffen zu verbrennen, damit, wenn ſie wieder zum Va¬ terlande heimzögen, ein Jeder den Kindern ſeiner Ver¬ wandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die Könige riefen ihm ringsumher Beifall. Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf ihrer Burg, vor dem Pallaſte des Königes, nicht ohne Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zwei¬ kampfes zur Verſammlung, und hier ſtand der weiſe An¬ tenor auf und ſprach: „Höret mein Wort, ihr Trojaner und Bundsgenoſſen. So lange wir treulos gegen den heiligen Vertrag, den Pandarus gebrochen hat, kämpfen, kann unſerm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rath nicht, daß wir die Argiverin Helena mit ſammt ihren Schätzen den Atriden ausliefern ſollten.“ Dagegen erhub ſich Paris und erwiederte: „Wenn du im Ernſte ſo gere¬ det haſt, Antenor, ſo haben dir wahrhaftig die Götter deinen Verſtand geraubt; ich aber bekenne gerade heraus, daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen ſie meinet¬ halben wieder haben, und ich will freiwillig von dem Meinigen noch hinzuthun, was ſie als Buße verlangen können!“ Nach ſeinem Sohne ſprach der greiſe König Priamus mit wohlmeinender Geſinnung: „Laßt uns heute nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! vertheilet den Nachtimbiß unter das Heer, ſtellet die Wachen aus und überlaſſet euch, behutſam wie immer, dem Schlafe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/172
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/172>, abgerufen am 24.11.2024.