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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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kluger Odysseus! Eilig dich ins Heer der Danaer
geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredsamkeit,
ermahne, hemme sie." Auf den Ruf der Göttin warf
Odysseus schnell seinen Mantel weg, den Eurybates, sein
Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter
das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürsten und edlern
Männer, so hielt er ihn mit freundlichen Worten an und
sprach ihm zu: "Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu
verzagen wie ein Feigling? Du solltest vielmehr ruhig
bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißest du doch
nicht, wie der Atride wirklich im Herzen gesinnt ist, und
ob er die Griechen nicht hat versuchen wollen!" Wenn
er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und schreiend
antraf, den schlug er mit seinem Scepter und bedrohte
ihn mit lauter Stimme: "Elender, rühre dich nicht; hör'
du, was Andre sagen, du, den man weder im Kampf,
noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch
nicht alle Könige seyn! Vielherrschaft ist nichts nütze, nur
Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und diesem
sollen die Andern gehorchen!"

So ließ Odysseus seine herrschende Stimme durchs
Heer erschallen, und bewog endlich das Volk von den
Schiffen auf den Versammlungsplatz zurückzuströmen. All¬
mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den
Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war
Thersites, der sich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬
worten gegen die Fürsten vernehmen ließ. Dieser war
der häßlichste Mann, der aus Griechenland mit vor Troja
gekommen war; er schielte mit dem einen Auge und war
lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem
Rücken, die Schultern gegen die Brust eingeengt, einen

kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer
geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit,
ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf
Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein
Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter
das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern
Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und
ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu
verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig
bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch
nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und
ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn
er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend
antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte
ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör'
du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf,
noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch
nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur
Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem
ſollen die Andern gehorchen!“

So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs
Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den
Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬
mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den
Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war
Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬
worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war
der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja
gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war
lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem
Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen

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[96/0118] kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit, ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör' du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf, noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem ſollen die Andern gehorchen!“ So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬ mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬ worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/118>, abgerufen am 24.11.2024.