Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

und ihnen den Rath ertheilen, zu Schiffe zu gehen und
die trojanische Küste zu verlassen, dann sollt ihr euch, der
eine da, der andere dorthin eilend, vertheilen, und die
Völker zum Bleiben zu bewegen suchen." Nach Agamemnon
erhob sich Nestor und sprach zu den Fürsten: "Wenn ein
anderer Mann uns einen solchen Traum erzählte, so
würden wir ihn der Lüge beschuldigen und uns verächtlich
abwenden. So aber ist der, der diesen Traum gesehen
hat, der erste Fürst aller Danaer; und darum glauben wir
ihm und gehen ans Werk!" Nestor verließ den Rath
und alle Fürsten folgten ihm auf den Markt, wo das
gesammte Volk sich schon wie ein Bienenschwarm versam¬
melte. Neun Herolde ordneten dasselbe, daß es sich im
Kreise lagerte und allmählig der Lärm und das Flüstern
der Redenden verstummte. Dann sprach Agamemnon, in
der Mitte der Versammlung stehend und auf seinen
Herrscherstab sich lehnend: "Lieben Freunde, versammelte
heldenmüthige Streiter des Danaervolkes, der grausame
Jupiter hat mich in schwere Schuld verstrickt, er, der mir
einst so gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger
Troja's heimziehen sollte. Jetzt aber gefällt es ihm, der
schon so viele Städte zu Boden geschmettert hat und in
seiner Allmacht noch niederschmettern wird, mir zu befeh¬
len, daß ich, nachdem so viel Volkes umsonst erlegen ist,
ruhmlos nach Argos zurückkehren soll. Auch ist es freilich
schmählich, wenn ein späteres Geschlecht vernehmen soll,
daß dieses große Griechenvolk in einem heillosen Streite
gegen so viel schwächere Feinde fortkämpfe. Denn wahr¬
haftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit
der Zahl der Unsrigen messen wollten, so daß je ein Tro¬
janer einem Tische von zehn Griechen den Wein kre¬

und ihnen den Rath ertheilen, zu Schiffe zu gehen und
die trojaniſche Küſte zu verlaſſen, dann ſollt ihr euch, der
eine da, der andere dorthin eilend, vertheilen, und die
Völker zum Bleiben zu bewegen ſuchen.“ Nach Agamemnon
erhob ſich Neſtor und ſprach zu den Fürſten: „Wenn ein
anderer Mann uns einen ſolchen Traum erzählte, ſo
würden wir ihn der Lüge beſchuldigen und uns verächtlich
abwenden. So aber iſt der, der dieſen Traum geſehen
hat, der erſte Fürſt aller Danaer; und darum glauben wir
ihm und gehen ans Werk!“ Neſtor verließ den Rath
und alle Fürſten folgten ihm auf den Markt, wo das
geſammte Volk ſich ſchon wie ein Bienenſchwarm verſam¬
melte. Neun Herolde ordneten daſſelbe, daß es ſich im
Kreiſe lagerte und allmählig der Lärm und das Flüſtern
der Redenden verſtummte. Dann ſprach Agamemnon, in
der Mitte der Verſammlung ſtehend und auf ſeinen
Herrſcherſtab ſich lehnend: „Lieben Freunde, verſammelte
heldenmüthige Streiter des Danaervolkes, der grauſame
Jupiter hat mich in ſchwere Schuld verſtrickt, er, der mir
einſt ſo gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger
Troja's heimziehen ſollte. Jetzt aber gefällt es ihm, der
ſchon ſo viele Städte zu Boden geſchmettert hat und in
ſeiner Allmacht noch niederſchmettern wird, mir zu befeh¬
len, daß ich, nachdem ſo viel Volkes umſonſt erlegen iſt,
ruhmlos nach Argos zurückkehren ſoll. Auch iſt es freilich
ſchmählich, wenn ein ſpäteres Geſchlecht vernehmen ſoll,
daß dieſes große Griechenvolk in einem heilloſen Streite
gegen ſo viel ſchwächere Feinde fortkämpfe. Denn wahr¬
haftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit
der Zahl der Unſrigen meſſen wollten, ſo daß je ein Tro¬
janer einem Tiſche von zehn Griechen den Wein kre¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0116" n="94"/>
und ihnen den Rath ertheilen, zu Schiffe zu gehen und<lb/>
die trojani&#x017F;che Kü&#x017F;te zu verla&#x017F;&#x017F;en, dann &#x017F;ollt ihr euch, der<lb/>
eine da, der andere dorthin eilend, vertheilen, und die<lb/>
Völker zum Bleiben zu bewegen &#x017F;uchen.&#x201C; Nach Agamemnon<lb/>
erhob &#x017F;ich Ne&#x017F;tor und &#x017F;prach zu den Für&#x017F;ten: &#x201E;Wenn ein<lb/>
anderer Mann uns einen &#x017F;olchen Traum erzählte, &#x017F;o<lb/>
würden wir ihn der Lüge be&#x017F;chuldigen und uns verächtlich<lb/>
abwenden. So aber i&#x017F;t der, der die&#x017F;en Traum ge&#x017F;ehen<lb/>
hat, der er&#x017F;te Für&#x017F;t aller Danaer; und darum glauben wir<lb/>
ihm und gehen ans Werk!&#x201C; Ne&#x017F;tor verließ den Rath<lb/>
und alle Für&#x017F;ten folgten ihm auf den Markt, wo das<lb/>
ge&#x017F;ammte Volk &#x017F;ich &#x017F;chon wie ein Bienen&#x017F;chwarm ver&#x017F;am¬<lb/>
melte. Neun Herolde ordneten da&#x017F;&#x017F;elbe, daß es &#x017F;ich im<lb/>
Krei&#x017F;e lagerte und allmählig der Lärm und das Flü&#x017F;tern<lb/>
der Redenden ver&#x017F;tummte. Dann &#x017F;prach Agamemnon, in<lb/>
der Mitte der Ver&#x017F;ammlung &#x017F;tehend und auf &#x017F;einen<lb/>
Herr&#x017F;cher&#x017F;tab &#x017F;ich lehnend: &#x201E;Lieben Freunde, ver&#x017F;ammelte<lb/>
heldenmüthige Streiter des Danaervolkes, der grau&#x017F;ame<lb/>
Jupiter hat mich in &#x017F;chwere Schuld ver&#x017F;trickt, er, der mir<lb/>
ein&#x017F;t &#x017F;o gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger<lb/>
Troja's heimziehen &#x017F;ollte. Jetzt aber gefällt es ihm, der<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;o viele Städte zu Boden ge&#x017F;chmettert hat und in<lb/>
&#x017F;einer Allmacht noch nieder&#x017F;chmettern wird, mir zu befeh¬<lb/>
len, daß ich, nachdem &#x017F;o viel Volkes um&#x017F;on&#x017F;t erlegen i&#x017F;t,<lb/>
ruhmlos nach Argos zurückkehren &#x017F;oll. Auch i&#x017F;t es freilich<lb/>
&#x017F;chmählich, wenn ein &#x017F;päteres Ge&#x017F;chlecht vernehmen &#x017F;oll,<lb/>
daß die&#x017F;es große Griechenvolk in einem heillo&#x017F;en Streite<lb/>
gegen &#x017F;o viel &#x017F;chwächere Feinde fortkämpfe. Denn wahr¬<lb/>
haftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit<lb/>
der Zahl der Un&#x017F;rigen me&#x017F;&#x017F;en wollten, &#x017F;o daß je ein Tro¬<lb/>
janer einem Ti&#x017F;che von zehn Griechen den Wein kre¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0116] und ihnen den Rath ertheilen, zu Schiffe zu gehen und die trojaniſche Küſte zu verlaſſen, dann ſollt ihr euch, der eine da, der andere dorthin eilend, vertheilen, und die Völker zum Bleiben zu bewegen ſuchen.“ Nach Agamemnon erhob ſich Neſtor und ſprach zu den Fürſten: „Wenn ein anderer Mann uns einen ſolchen Traum erzählte, ſo würden wir ihn der Lüge beſchuldigen und uns verächtlich abwenden. So aber iſt der, der dieſen Traum geſehen hat, der erſte Fürſt aller Danaer; und darum glauben wir ihm und gehen ans Werk!“ Neſtor verließ den Rath und alle Fürſten folgten ihm auf den Markt, wo das geſammte Volk ſich ſchon wie ein Bienenſchwarm verſam¬ melte. Neun Herolde ordneten daſſelbe, daß es ſich im Kreiſe lagerte und allmählig der Lärm und das Flüſtern der Redenden verſtummte. Dann ſprach Agamemnon, in der Mitte der Verſammlung ſtehend und auf ſeinen Herrſcherſtab ſich lehnend: „Lieben Freunde, verſammelte heldenmüthige Streiter des Danaervolkes, der grauſame Jupiter hat mich in ſchwere Schuld verſtrickt, er, der mir einſt ſo gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger Troja's heimziehen ſollte. Jetzt aber gefällt es ihm, der ſchon ſo viele Städte zu Boden geſchmettert hat und in ſeiner Allmacht noch niederſchmettern wird, mir zu befeh¬ len, daß ich, nachdem ſo viel Volkes umſonſt erlegen iſt, ruhmlos nach Argos zurückkehren ſoll. Auch iſt es freilich ſchmählich, wenn ein ſpäteres Geſchlecht vernehmen ſoll, daß dieſes große Griechenvolk in einem heilloſen Streite gegen ſo viel ſchwächere Feinde fortkämpfe. Denn wahr¬ haftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit der Zahl der Unſrigen meſſen wollten, ſo daß je ein Tro¬ janer einem Tiſche von zehn Griechen den Wein kre¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/116
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/116>, abgerufen am 29.03.2024.