Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

anderes Gewächs empor gesprossen ist, daß die Göttin
Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Kiste einge¬
schlossen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und
das Kistchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung
überlassen habe; daß diese aus Neugierde dasselbe eröffnet
und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn gerathen
und sich von dem Felsen der Cekropischen Burg herabge¬
stürzt?" Kreusa bejahte die Frage schweigend, denn das
Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ih¬
res verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr stand,
fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: "Sage mir auch,
hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein Vater Erechtheus
seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines
Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert,
um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß
du allein gerettet worden bist?" -- "Ich war, sprach
Kreusa, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen
der Mutter." -- "Und ist es auch wahr, so fragte der
Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem
Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Nep¬
tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe seines Erd¬
grabes eine Grotte ist, die mein Herr der pythische Apol¬
lo so lieb hat?" -- "O schweige mir von jener Grotte,
Fremdling, unterbrach ihn seufzend Kreusa, in ihr ist
eine Treulosigkeit und ein großer Frevel begangen wor¬
den." Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wie¬
der und erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tem¬
pelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin des
Fürsten Xuthus, und mit diesem nach Delphi gewall¬
fahrtet sey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des
Gottes zu erflehen. "Phöbus Apollo, sprach sie mit ei¬

anderes Gewächs empor geſproſſen iſt, daß die Göttin
Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Kiſte einge¬
ſchloſſen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und
das Kiſtchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung
überlaſſen habe; daß dieſe aus Neugierde daſſelbe eröffnet
und beim Anblicke des Knaben in Wahnſinn gerathen
und ſich von dem Felſen der Cekropiſchen Burg herabge¬
ſtürzt?“ Krëuſa bejahte die Frage ſchweigend, denn das
Schickſal ihres Urahns erinnerte ſie an das Geſchick ih¬
res verlorenen Sohnes. Dieſer aber, der vor ihr ſtand,
fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: „Sage mir auch,
hohe Fürſtin, iſt es wahr, daß dein Vater Erechtheus
ſeine Töchter, deine Schweſtern, auf den Ausſpruch eines
Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert,
um über die Feinde zu ſiegen? Und wie kam es, daß
du allein gerettet worden biſt?“ — „Ich war, ſprach
Krëuſa, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen
der Mutter.“ — „Und iſt es auch wahr, ſo fragte der
Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem
Erdſpalt verſchlungen worden iſt, daß der Dreizack Nep¬
tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe ſeines Erd¬
grabes eine Grotte iſt, die mein Herr der pythiſche Apol¬
lo ſo lieb hat?“ — „O ſchweige mir von jener Grotte,
Fremdling, unterbrach ihn ſeufzend Krëuſa, in ihr iſt
eine Treuloſigkeit und ein großer Frevel begangen wor¬
den.“ Die Fürſtin ſchwieg eine Weile, ſammelte ſich wie¬
der und erzählte dem Jüngling, in welchem ſie den Tem¬
pelhüter des Gottes erkannte, daß ſie die Gemahlin des
Fürſten Xuthus, und mit dieſem nach Delphi gewall¬
fahrtet ſey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des
Gottes zu erflehen. „Phöbus Apollo, ſprach ſie mit ei¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0096" n="70"/>
anderes Gewächs empor ge&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, daß die Göttin<lb/>
Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Ki&#x017F;te einge¬<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und<lb/>
das Ki&#x017F;tchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung<lb/>
überla&#x017F;&#x017F;en habe; daß die&#x017F;e aus Neugierde da&#x017F;&#x017F;elbe eröffnet<lb/>
und beim Anblicke des Knaben in Wahn&#x017F;inn gerathen<lb/>
und &#x017F;ich von dem Fel&#x017F;en der Cekropi&#x017F;chen Burg herabge¬<lb/>
&#x017F;türzt?&#x201C; Kr<hi rendition="#aq">ë</hi>u&#x017F;a bejahte die Frage &#x017F;chweigend, denn das<lb/>
Schick&#x017F;al ihres Urahns erinnerte &#x017F;ie an das Ge&#x017F;chick ih¬<lb/>
res verlorenen Sohnes. Die&#x017F;er aber, der vor ihr &#x017F;tand,<lb/>
fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: &#x201E;Sage mir auch,<lb/>
hohe Für&#x017F;tin, i&#x017F;t es wahr, daß dein Vater Erechtheus<lb/>
&#x017F;eine Töchter, deine Schwe&#x017F;tern, auf den Aus&#x017F;pruch eines<lb/>
Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert,<lb/>
um über die Feinde zu &#x017F;iegen? Und wie kam es, daß<lb/>
du allein gerettet worden bi&#x017F;t?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ich war, &#x017F;prach<lb/>
Kr<hi rendition="#aq">ë</hi>u&#x017F;a, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen<lb/>
der Mutter.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Und i&#x017F;t es auch wahr, &#x017F;o fragte der<lb/>
Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem<lb/>
Erd&#x017F;palt ver&#x017F;chlungen worden i&#x017F;t, daß der Dreizack Nep¬<lb/>
tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe &#x017F;eines Erd¬<lb/>
grabes eine Grotte i&#x017F;t, die mein Herr der pythi&#x017F;che Apol¬<lb/>
lo &#x017F;o lieb hat?&#x201C; &#x2014; &#x201E;O &#x017F;chweige mir von jener Grotte,<lb/>
Fremdling, unterbrach ihn &#x017F;eufzend Kr<hi rendition="#aq">ë</hi>u&#x017F;a, in ihr i&#x017F;t<lb/>
eine Treulo&#x017F;igkeit und ein großer Frevel begangen wor¬<lb/>
den.&#x201C; Die Für&#x017F;tin &#x017F;chwieg eine Weile, &#x017F;ammelte &#x017F;ich wie¬<lb/>
der und erzählte dem Jüngling, in welchem &#x017F;ie den Tem¬<lb/>
pelhüter des Gottes erkannte, daß &#x017F;ie die Gemahlin des<lb/>
Für&#x017F;ten Xuthus, und mit die&#x017F;em nach Delphi gewall¬<lb/>
fahrtet &#x017F;ey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des<lb/>
Gottes zu erflehen. &#x201E;Phöbus Apollo, &#x017F;prach &#x017F;ie mit ei¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0096] anderes Gewächs empor geſproſſen iſt, daß die Göttin Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Kiſte einge¬ ſchloſſen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kiſtchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung überlaſſen habe; daß dieſe aus Neugierde daſſelbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnſinn gerathen und ſich von dem Felſen der Cekropiſchen Burg herabge¬ ſtürzt?“ Krëuſa bejahte die Frage ſchweigend, denn das Schickſal ihres Urahns erinnerte ſie an das Geſchick ih¬ res verlorenen Sohnes. Dieſer aber, der vor ihr ſtand, fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: „Sage mir auch, hohe Fürſtin, iſt es wahr, daß dein Vater Erechtheus ſeine Töchter, deine Schweſtern, auf den Ausſpruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu ſiegen? Und wie kam es, daß du allein gerettet worden biſt?“ — „Ich war, ſprach Krëuſa, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der Mutter.“ — „Und iſt es auch wahr, ſo fragte der Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem Erdſpalt verſchlungen worden iſt, daß der Dreizack Nep¬ tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe ſeines Erd¬ grabes eine Grotte iſt, die mein Herr der pythiſche Apol¬ lo ſo lieb hat?“ — „O ſchweige mir von jener Grotte, Fremdling, unterbrach ihn ſeufzend Krëuſa, in ihr iſt eine Treuloſigkeit und ein großer Frevel begangen wor¬ den.“ Die Fürſtin ſchwieg eine Weile, ſammelte ſich wie¬ der und erzählte dem Jüngling, in welchem ſie den Tem¬ pelhüter des Gottes erkannte, daß ſie die Gemahlin des Fürſten Xuthus, und mit dieſem nach Delphi gewall¬ fahrtet ſey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des Gottes zu erflehen. „Phöbus Apollo, ſprach ſie mit ei¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/96
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/96>, abgerufen am 22.11.2024.