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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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selt und durchsichtiger, als reine Juwelen; goldgelb war
seine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirne schimmerte ein
silberweißes Maal, dem gekrümmten Horne des wachsen¬
den Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde
Augen rollten ihm im Kopfe.

Ehe Jupiter diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er
zu sich auf den Olymp den Merkurius und sprach, ohne ihm et¬
was von seinen Absichten zu enthüllen: "Spute dich, lieber
Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehst du dort un¬
ten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönicien:
dieses betritt, und treibe mir das Vieh des Königes Age¬
nor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst,
gegen das Meeresufer hinab." In wenigen Augenblicken
war der geflügelte Gott, dem Winke seines Vaters ge¬
horsam, auf der sidonischen Bergwaide angekommen und
trieb die Heerde des Königes, unter die sich auch, ohne
daß Merkur es geahnt hätte, der verwandelte Jupiter als
Stier gemischt hatte, vom Berge herab nach dem ange¬
wiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter
Agenors, von tyrischen Jungfrauen umringt, sorglos
mit Blumen tändelte. Die übrige Heerde nun zerstreute
sich über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der
schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, nä¬
herte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren
Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er im üppigen Grase
einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein
funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: sein ganzes Aus¬
sehen war voll Sanftmuth. Europa und ihre Jungfrauen
bewunderten die edle Gestalt des Thieres und seine fried¬
lichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der
Nähe zn besehen, und ihm den schimmernden Rücken zu

ſelt und durchſichtiger, als reine Juwelen; goldgelb war
ſeine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirne ſchimmerte ein
ſilberweißes Maal, dem gekrümmten Horne des wachſen¬
den Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde
Augen rollten ihm im Kopfe.

Ehe Jupiter dieſe Verwandlung mit ſich vornahm, rief er
zu ſich auf den Olymp den Merkurius und ſprach, ohne ihm et¬
was von ſeinen Abſichten zu enthüllen: „Spute dich, lieber
Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehſt du dort un¬
ten das Land, das links zu uns emporblickt? Es iſt Phönicien:
dieſes betritt, und treibe mir das Vieh des Königes Age¬
nor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirſt,
gegen das Meeresufer hinab.“ In wenigen Augenblicken
war der geflügelte Gott, dem Winke ſeines Vaters ge¬
horſam, auf der ſidoniſchen Bergwaide angekommen und
trieb die Heerde des Königes, unter die ſich auch, ohne
daß Merkur es geahnt hätte, der verwandelte Jupiter als
Stier gemiſcht hatte, vom Berge herab nach dem ange¬
wieſenen Strande, eben auf jene Wieſen, wo die Tochter
Agenors, von tyriſchen Jungfrauen umringt, ſorglos
mit Blumen tändelte. Die übrige Heerde nun zerſtreute
ſich über die Wieſen ferne von den Mädchen; nur der
ſchöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, nä¬
herte ſich dem Raſenhügel, auf welchem Europa mit ihren
Geſpielinnen ſaß. Schmuck wandelte er im üppigen Graſe
einher, über ſeiner Stirne ſchwebte kein Drohen, ſein
funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: ſein ganzes Aus¬
ſehen war voll Sanftmuth. Europa und ihre Jungfrauen
bewunderten die edle Geſtalt des Thieres und ſeine fried¬
lichen Gebärden, ja ſie bekamen Luſt, ihn recht in der
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[38/0064] ſelt und durchſichtiger, als reine Juwelen; goldgelb war ſeine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirne ſchimmerte ein ſilberweißes Maal, dem gekrümmten Horne des wachſen¬ den Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe. Ehe Jupiter dieſe Verwandlung mit ſich vornahm, rief er zu ſich auf den Olymp den Merkurius und ſprach, ohne ihm et¬ was von ſeinen Abſichten zu enthüllen: „Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehſt du dort un¬ ten das Land, das links zu uns emporblickt? Es iſt Phönicien: dieſes betritt, und treibe mir das Vieh des Königes Age¬ nor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirſt, gegen das Meeresufer hinab.“ In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke ſeines Vaters ge¬ horſam, auf der ſidoniſchen Bergwaide angekommen und trieb die Heerde des Königes, unter die ſich auch, ohne daß Merkur es geahnt hätte, der verwandelte Jupiter als Stier gemiſcht hatte, vom Berge herab nach dem ange¬ wieſenen Strande, eben auf jene Wieſen, wo die Tochter Agenors, von tyriſchen Jungfrauen umringt, ſorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Heerde nun zerſtreute ſich über die Wieſen ferne von den Mädchen; nur der ſchöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, nä¬ herte ſich dem Raſenhügel, auf welchem Europa mit ihren Geſpielinnen ſaß. Schmuck wandelte er im üppigen Graſe einher, über ſeiner Stirne ſchwebte kein Drohen, ſein funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: ſein ganzes Aus¬ ſehen war voll Sanftmuth. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die edle Geſtalt des Thieres und ſeine fried¬ lichen Gebärden, ja ſie bekamen Luſt, ihn recht in der Nähe zn beſehen, und ihm den ſchimmernden Rücken zu

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/64>, abgerufen am 22.11.2024.