saßen sie so, als auch schon wieder ein Herold des Köni¬ ges Eurystheus einhergeschritten kam. Er stellte sich tro¬ tzig vor Jolaus hin und sprach in höhnendem Tone: "Du meinst wohl gar hier einen sicheren Sitz gefunden zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu seyn, thörichter Jolaus! Freilich, es wird auch jemand einfallen, deine unnütze Bundesgenossenschaft mit der des mächtigen Eurystheus zu vertauschen! Darum fort von hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach Urtheil und Recht die Steinigung wartet!" Jolaus ant¬ wortete ihm getrost: "Das sey ferne! Weiß ich doch, daß dieser Altar eine Stätte ist, die mich nicht nur vor dir, dem Unmächtigen, sondern selbst vor den Heerschaa¬ ren deines Herrn schützen wird, und daß es das Land der Freiheit ist, in welches wir uns gerettet haben." -- "So wisse," entgegnete ihm Kopreus -- so hieß der He¬ rold -- "daß ich nicht allein komme, sondern hinter mir eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von dieser vermeintlichen Freistätte hinwegreißen wird!"
Bei diesen Worten erhuben die Herakliden einen Klageruf, und Jolaus wandte sich mit lauter Stimme an die Bewohner Athens: "Ihr frommen Bürger!" rief er, "duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Jupiter mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir als Flehende auf dem Haupte tragen, besudelt wird, daß die Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe." Auf diesen durchdringenden Hülferuf strömten die Athe¬ ner von allen Seiten auf den Markt herbei und sahen nun erst die Schaar der Flüchtlinge um den Altar sitzen. "Wer ist der ehrwürdige Greis? Wer sind die schönen lockigten Jüng¬ linge?" so tönte es von hundert Lippen zugleich. Als sie
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ſaßen ſie ſo, als auch ſchon wieder ein Herold des Köni¬ ges Euryſtheus einhergeſchritten kam. Er ſtellte ſich tro¬ tzig vor Jolaus hin und ſprach in höhnendem Tone: „Du meinſt wohl gar hier einen ſicheren Sitz gefunden zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu ſeyn, thörichter Jolaus! Freilich, es wird auch jemand einfallen, deine unnütze Bundesgenoſſenſchaft mit der des mächtigen Euryſtheus zu vertauſchen! Darum fort von hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach Urtheil und Recht die Steinigung wartet!“ Jolaus ant¬ wortete ihm getroſt: „Das ſey ferne! Weiß ich doch, daß dieſer Altar eine Stätte iſt, die mich nicht nur vor dir, dem Unmächtigen, ſondern ſelbſt vor den Heerſchaa¬ ren deines Herrn ſchützen wird, und daß es das Land der Freiheit iſt, in welches wir uns gerettet haben.“ — „So wiſſe,“ entgegnete ihm Kopreus — ſo hieß der He¬ rold — „daß ich nicht allein komme, ſondern hinter mir eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von dieſer vermeintlichen Freiſtätte hinwegreißen wird!“
Bei dieſen Worten erhuben die Herakliden einen Klageruf, und Jolaus wandte ſich mit lauter Stimme an die Bewohner Athens: „Ihr frommen Bürger!“ rief er, „duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Jupiter mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir als Flehende auf dem Haupte tragen, beſudelt wird, daß die Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe.“ Auf dieſen durchdringenden Hülferuf ſtrömten die Athe¬ ner von allen Seiten auf den Markt herbei und ſahen nun erſt die Schaar der Flüchtlinge um den Altar ſitzen. „Wer iſt der ehrwürdige Greis? Wer ſind die ſchönen lockigten Jüng¬ linge?“ ſo tönte es von hundert Lippen zugleich. Als ſie
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ſaßen ſie ſo, als auch ſchon wieder ein Herold des Köni¬
ges Euryſtheus einhergeſchritten kam. Er ſtellte ſich tro¬
tzig vor Jolaus hin und ſprach in höhnendem Tone:
„Du meinſt wohl gar hier einen ſicheren Sitz gefunden
zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu
ſeyn, thörichter Jolaus! Freilich, es wird auch jemand
einfallen, deine unnütze Bundesgenoſſenſchaft mit der des
mächtigen Euryſtheus zu vertauſchen! Darum fort von
hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach
Urtheil und Recht die Steinigung wartet!“ Jolaus ant¬
wortete ihm getroſt: „Das ſey ferne! Weiß ich doch,
daß dieſer Altar eine Stätte iſt, die mich nicht nur vor
dir, dem Unmächtigen, ſondern ſelbſt vor den Heerſchaa¬
ren deines Herrn ſchützen wird, und daß es das Land
der Freiheit iſt, in welches wir uns gerettet haben.“ —
„So wiſſe,“ entgegnete ihm Kopreus — ſo hieß der He¬
rold — „daß ich nicht allein komme, ſondern hinter mir
eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von
dieſer vermeintlichen Freiſtätte hinwegreißen wird!“
Bei dieſen Worten erhuben die Herakliden einen
Klageruf, und Jolaus wandte ſich mit lauter Stimme
an die Bewohner Athens: „Ihr frommen Bürger!“ rief
er, „duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Jupiter
mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir
als Flehende auf dem Haupte tragen, beſudelt wird, daß die
Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe.“
Auf dieſen durchdringenden Hülferuf ſtrömten die Athe¬
ner von allen Seiten auf den Markt herbei und ſahen nun
erſt die Schaar der Flüchtlinge um den Altar ſitzen. „Wer iſt
der ehrwürdige Greis? Wer ſind die ſchönen lockigten Jüng¬
linge?“ ſo tönte es von hundert Lippen zugleich. Als ſie
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/413>, abgerufen am 25.11.2024.
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