Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Oe¬ dipus schon erzählt hat, der Seher Tiresias, der Sohn des Everes und der Nymphe Chariklo; dieser hatte als Jüngling die Göttin Minerva bei seiner Mutter über¬ rascht und geschaut, was er nicht schauen sollte. Dafür war er von der Göttin mit Blindheit geschlagen worden. Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehent¬ lich gebeten, ihm das Gesicht wieder zu geben, aber Minerva vermochte dieses nicht mehr; doch erbarmte sie sich seiner und reinigte ihm dafür sein Gehör, daß er alle Stimmen der Vögel verstand. Und so war er von Stund' an der Vogelschauer der Stadt.
Zu diesem jetzt greisen Seher schickte Kreon seinen jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspal¬ last geleite. Mit wankendem Knie, von seiner Tochter Manto und dem Knaben geführt, erschien auch bald dar¬ auf der Alte vor Kreon. Dieser drang in ihn, zu mel¬ den, was der Vögel Flug ihm vom Schicksale der Stadt verkündige. Tiresias schwieg lange; endlich sprach er die traurigen Worte: "Die Söhne des Oedipus haben sich an ihrem Vater schwer versündigt; sie bringen ins Thebanerland bittere Trübsal. Argiver und Kadmeer werden sich morden, die Söhne, einer von des andern Hand, fallen. Nur Eine Rettung weiß ich für die Stadt; aber sie ist für die Geretteten selbst zu bitter, als daß mein Mund sie offenbaren sollte. Lebet wohl!" Er wandte sich und wollte gehen, aber Kreon flehte so lange bis er blieb. "Du willst es dennoch hören?" sprach der Seher in strengem Tone; "so vernimm es! Aber sage mir zu¬ vor, wo weilt dein Sohn, Menökeus, der mich hergelei¬ tete?" -- "Er steht neben dir!" erwiederte Kreon. "Nun
Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Oe¬ dipus ſchon erzählt hat, der Seher Tireſias, der Sohn des Everes und der Nymphe Chariklo; dieſer hatte als Jüngling die Göttin Minerva bei ſeiner Mutter über¬ raſcht und geſchaut, was er nicht ſchauen ſollte. Dafür war er von der Göttin mit Blindheit geſchlagen worden. Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehent¬ lich gebeten, ihm das Geſicht wieder zu geben, aber Minerva vermochte dieſes nicht mehr; doch erbarmte ſie ſich ſeiner und reinigte ihm dafür ſein Gehör, daß er alle Stimmen der Vögel verſtand. Und ſo war er von Stund' an der Vogelſchauer der Stadt.
Zu dieſem jetzt greiſen Seher ſchickte Kreon ſeinen jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspal¬ laſt geleite. Mit wankendem Knie, von ſeiner Tochter Manto und dem Knaben geführt, erſchien auch bald dar¬ auf der Alte vor Kreon. Dieſer drang in ihn, zu mel¬ den, was der Vögel Flug ihm vom Schickſale der Stadt verkündige. Tireſias ſchwieg lange; endlich ſprach er die traurigen Worte: „Die Söhne des Oedipus haben ſich an ihrem Vater ſchwer verſündigt; ſie bringen ins Thebanerland bittere Trübſal. Argiver und Kadmeer werden ſich morden, die Söhne, einer von des andern Hand, fallen. Nur Eine Rettung weiß ich für die Stadt; aber ſie iſt für die Geretteten ſelbſt zu bitter, als daß mein Mund ſie offenbaren ſollte. Lebet wohl!“ Er wandte ſich und wollte gehen, aber Kreon flehte ſo lange bis er blieb. „Du willſt es dennoch hören?“ ſprach der Seher in ſtrengem Tone; „ſo vernimm es! Aber ſage mir zu¬ vor, wo weilt dein Sohn, Menökeus, der mich hergelei¬ tete?“ — „Er ſteht neben dir!“ erwiederte Kreon. „Nun
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Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Oe¬
dipus ſchon erzählt hat, der Seher Tireſias, der Sohn
des Everes und der Nymphe Chariklo; dieſer hatte als
Jüngling die Göttin Minerva bei ſeiner Mutter über¬
raſcht und geſchaut, was er nicht ſchauen ſollte. Dafür
war er von der Göttin mit Blindheit geſchlagen worden.
Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehent¬
lich gebeten, ihm das Geſicht wieder zu geben, aber
Minerva vermochte dieſes nicht mehr; doch erbarmte ſie
ſich ſeiner und reinigte ihm dafür ſein Gehör, daß er
alle Stimmen der Vögel verſtand. Und ſo war er von
Stund' an der Vogelſchauer der Stadt.
Zu dieſem jetzt greiſen Seher ſchickte Kreon ſeinen
jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspal¬
laſt geleite. Mit wankendem Knie, von ſeiner Tochter
Manto und dem Knaben geführt, erſchien auch bald dar¬
auf der Alte vor Kreon. Dieſer drang in ihn, zu mel¬
den, was der Vögel Flug ihm vom Schickſale der Stadt
verkündige. Tireſias ſchwieg lange; endlich ſprach er
die traurigen Worte: „Die Söhne des Oedipus haben
ſich an ihrem Vater ſchwer verſündigt; ſie bringen ins
Thebanerland bittere Trübſal. Argiver und Kadmeer
werden ſich morden, die Söhne, einer von des andern
Hand, fallen. Nur Eine Rettung weiß ich für die Stadt;
aber ſie iſt für die Geretteten ſelbſt zu bitter, als daß
mein Mund ſie offenbaren ſollte. Lebet wohl!“ Er wandte
ſich und wollte gehen, aber Kreon flehte ſo lange bis er
blieb. „Du willſt es dennoch hören?“ ſprach der Seher
in ſtrengem Tone; „ſo vernimm es! Aber ſage mir zu¬
vor, wo weilt dein Sohn, Menökeus, der mich hergelei¬
tete?“ — „Er ſteht neben dir!“ erwiederte Kreon. „Nun
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/382>, abgerufen am 24.11.2024.
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