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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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dessen Locke schon grau wird, wehret euch für sie,
für die Altäre der heimischen Götter, für Väter, Weiber
und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet
der Vogelschauer, daß in der nächsten Nacht das Argi¬
verheer sich zusammenziehen und einen Angriff auf die
Stadt machen wird. Darum ihr alle auf die Mauer¬
zinnen, an die Thore geeilt! Brecht vor mit allen Waf¬
fen! Besetzt die Schanzen, stellt euch in die Thürme mit
euren Geschoßen, bewahret jeden Ausgang sorgfältig und
fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen
schleichen meine Kundschafter umher, und ich bin gewiß,
daß sie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Mel¬
dungen werde ich handeln."

Während Eteokles so zu seinen Reitern sprach, stand
auf der höchsten Zinne des Pallastes mit einem greisen
Waffenträger ihres Großvaters Laius die Jungfrau An¬
tigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lang
unter dem liebevollen Schutze des Königes Theseus zu
Athen geblieben, sondern hatte mit ihrer Schwester Is¬
mene in ihre Heimath zurückverlangt, wohin eine unbe¬
stimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polynices nützlich wer¬
den zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterstadt
sie trieb, deren Belagerung durch den Bruder sie nicht
billigen konnte und deren Schicksal sie theilen wollte.
Dort war sie von dem Fürsten Kreon und ihrem Bru¬
der Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden,
denn sie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen
Geissel und eine willkommene Vermittlerin. Diese war
jetzt die alte Cedertreppe des Pallastes emporgestiegen,
und stand auf der Platform desselben, wo ihr der
Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum auf

Schwab, das klass. Alterthum. I. 23

deſſen Locke ſchon grau wird, wehret euch für ſie,
für die Altäre der heimiſchen Götter, für Väter, Weiber
und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet
der Vogelſchauer, daß in der nächſten Nacht das Argi¬
verheer ſich zuſammenziehen und einen Angriff auf die
Stadt machen wird. Darum ihr alle auf die Mauer¬
zinnen, an die Thore geeilt! Brecht vor mit allen Waf¬
fen! Beſetzt die Schanzen, ſtellt euch in die Thürme mit
euren Geſchoßen, bewahret jeden Ausgang ſorgfältig und
fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen
ſchleichen meine Kundſchafter umher, und ich bin gewiß,
daß ſie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Mel¬
dungen werde ich handeln.“

Während Eteokles ſo zu ſeinen Reitern ſprach, ſtand
auf der höchſten Zinne des Pallaſtes mit einem greiſen
Waffenträger ihres Großvaters Laïus die Jungfrau An¬
tigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lang
unter dem liebevollen Schutze des Königes Theſeus zu
Athen geblieben, ſondern hatte mit ihrer Schweſter Iſ¬
mene in ihre Heimath zurückverlangt, wohin eine unbe¬
ſtimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polynices nützlich wer¬
den zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterſtadt
ſie trieb, deren Belagerung durch den Bruder ſie nicht
billigen konnte und deren Schickſal ſie theilen wollte.
Dort war ſie von dem Fürſten Kreon und ihrem Bru¬
der Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden,
denn ſie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen
Geiſſel und eine willkommene Vermittlerin. Dieſe war
jetzt die alte Cedertreppe des Pallaſtes emporgeſtiegen,
und ſtand auf der Platform deſſelben, wo ihr der
Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum auf

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 23
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[353/0379] deſſen Locke ſchon grau wird, wehret euch für ſie, für die Altäre der heimiſchen Götter, für Väter, Weiber und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet der Vogelſchauer, daß in der nächſten Nacht das Argi¬ verheer ſich zuſammenziehen und einen Angriff auf die Stadt machen wird. Darum ihr alle auf die Mauer¬ zinnen, an die Thore geeilt! Brecht vor mit allen Waf¬ fen! Beſetzt die Schanzen, ſtellt euch in die Thürme mit euren Geſchoßen, bewahret jeden Ausgang ſorgfältig und fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen ſchleichen meine Kundſchafter umher, und ich bin gewiß, daß ſie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Mel¬ dungen werde ich handeln.“ Während Eteokles ſo zu ſeinen Reitern ſprach, ſtand auf der höchſten Zinne des Pallaſtes mit einem greiſen Waffenträger ihres Großvaters Laïus die Jungfrau An¬ tigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lang unter dem liebevollen Schutze des Königes Theſeus zu Athen geblieben, ſondern hatte mit ihrer Schweſter Iſ¬ mene in ihre Heimath zurückverlangt, wohin eine unbe¬ ſtimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polynices nützlich wer¬ den zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterſtadt ſie trieb, deren Belagerung durch den Bruder ſie nicht billigen konnte und deren Schickſal ſie theilen wollte. Dort war ſie von dem Fürſten Kreon und ihrem Bru¬ der Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden, denn ſie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen Geiſſel und eine willkommene Vermittlerin. Dieſe war jetzt die alte Cedertreppe des Pallaſtes emporgeſtiegen, und ſtand auf der Platform deſſelben, wo ihr der Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum auf Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 23

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/379>, abgerufen am 24.11.2024.