Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er solle
die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬
leite sich erbitten. Theseus verstand diesen Spruch nicht,
brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg
aber gab der Weissagung ihren guten Sinn. Denn als
Theseus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige
Minos erschienen war, zog seine Schönheit und Helden¬
jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne
auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬
heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬
den ein, dessen Ende er am Eingange des Labyrinthes
festknüpfen und den er während des Hinschreitens durch
die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen lassen
sollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬
taurus seine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab
sie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er dieses Un¬
geheuer tödten könnte. Theseus ward mit allen seinen
Gefährten von Minos in das Labyrinth geschickt, machte
den Führer seiner Genossen, erlegte mit seiner Zauber¬
waffe den Minotaurus und wand sich mit allen, die bei
ihm waren, durch Hülfe des abgespulten Zwirns aus den
Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt
entfloh Theseus sammt allen seinen Gefährten mit Hülfe
und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬
glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬
tet errungen, mit sich führte. Auf ihren Rath hatte er
auch den Boden der kretischen Schiffe zerhauen und so
ihrem Vater das Nachsetzen unmöglich gemacht. Schon
glaubte er seine holde Beute ganz in Sicherheit und
kehrte mit Ariadne sorglos auf der Insel Dia ein, die
später Naxos genannt wurde. Da erschien ihm der

Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er ſolle
die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬
leite ſich erbitten. Theſeus verſtand dieſen Spruch nicht,
brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg
aber gab der Weiſſagung ihren guten Sinn. Denn als
Theſeus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige
Minos erſchienen war, zog ſeine Schönheit und Helden¬
jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne
auf ſich. Sie geſtand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬
heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬
den ein, deſſen Ende er am Eingange des Labyrinthes
feſtknüpfen und den er während des Hinſchreitens durch
die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen laſſen
ſollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬
taurus ſeine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab
ſie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er dieſes Un¬
geheuer tödten könnte. Theſeus ward mit allen ſeinen
Gefährten von Minos in das Labyrinth geſchickt, machte
den Führer ſeiner Genoſſen, erlegte mit ſeiner Zauber¬
waffe den Minotaurus und wand ſich mit allen, die bei
ihm waren, durch Hülfe des abgeſpulten Zwirns aus den
Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt
entfloh Theſeus ſammt allen ſeinen Gefährten mit Hülfe
und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬
glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬
tet errungen, mit ſich führte. Auf ihren Rath hatte er
auch den Boden der kretiſchen Schiffe zerhauen und ſo
ihrem Vater das Nachſetzen unmöglich gemacht. Schon
glaubte er ſeine holde Beute ganz in Sicherheit und
kehrte mit Ariadne ſorglos auf der Inſel Dia ein, die
ſpäter Naxos genannt wurde. Da erſchien ihm der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0314" n="288"/>
            <p>Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er &#x017F;olle<lb/>
die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬<lb/>
leite &#x017F;ich erbitten. The&#x017F;eus ver&#x017F;tand die&#x017F;en Spruch nicht,<lb/>
brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg<lb/>
aber gab der Wei&#x017F;&#x017F;agung ihren guten Sinn. Denn als<lb/>
The&#x017F;eus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige<lb/>
Minos er&#x017F;chienen war, zog &#x017F;eine Schönheit und Helden¬<lb/>
jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne<lb/>
auf &#x017F;ich. Sie ge&#x017F;tand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬<lb/>
heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬<lb/>
den ein, de&#x017F;&#x017F;en Ende er am Eingange des Labyrinthes<lb/>
fe&#x017F;tknüpfen und den er während des Hin&#x017F;chreitens durch<lb/>
die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬<lb/>
taurus &#x017F;eine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab<lb/>
&#x017F;ie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er die&#x017F;es Un¬<lb/>
geheuer tödten könnte. The&#x017F;eus ward mit allen &#x017F;einen<lb/>
Gefährten von Minos in das Labyrinth ge&#x017F;chickt, machte<lb/>
den Führer &#x017F;einer Geno&#x017F;&#x017F;en, erlegte mit &#x017F;einer Zauber¬<lb/>
waffe den Minotaurus und wand &#x017F;ich mit allen, die bei<lb/>
ihm waren, durch Hülfe des abge&#x017F;pulten Zwirns aus den<lb/>
Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt<lb/>
entfloh The&#x017F;eus &#x017F;ammt allen &#x017F;einen Gefährten mit Hülfe<lb/>
und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬<lb/>
glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬<lb/>
tet errungen, mit &#x017F;ich führte. Auf ihren Rath hatte er<lb/>
auch den Boden der kreti&#x017F;chen Schiffe zerhauen und &#x017F;o<lb/>
ihrem Vater das Nach&#x017F;etzen unmöglich gemacht. Schon<lb/>
glaubte er &#x017F;eine holde Beute ganz in Sicherheit und<lb/>
kehrte mit Ariadne &#x017F;orglos auf der In&#x017F;el Dia ein, die<lb/>
&#x017F;päter Naxos genannt wurde. Da er&#x017F;chien ihm der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[288/0314] Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er ſolle die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬ leite ſich erbitten. Theſeus verſtand dieſen Spruch nicht, brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg aber gab der Weiſſagung ihren guten Sinn. Denn als Theſeus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige Minos erſchienen war, zog ſeine Schönheit und Helden¬ jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne auf ſich. Sie geſtand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬ heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬ den ein, deſſen Ende er am Eingange des Labyrinthes feſtknüpfen und den er während des Hinſchreitens durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen laſſen ſollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬ taurus ſeine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab ſie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er dieſes Un¬ geheuer tödten könnte. Theſeus ward mit allen ſeinen Gefährten von Minos in das Labyrinth geſchickt, machte den Führer ſeiner Genoſſen, erlegte mit ſeiner Zauber¬ waffe den Minotaurus und wand ſich mit allen, die bei ihm waren, durch Hülfe des abgeſpulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt entfloh Theſeus ſammt allen ſeinen Gefährten mit Hülfe und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬ glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬ tet errungen, mit ſich führte. Auf ihren Rath hatte er auch den Boden der kretiſchen Schiffe zerhauen und ſo ihrem Vater das Nachſetzen unmöglich gemacht. Schon glaubte er ſeine holde Beute ganz in Sicherheit und kehrte mit Ariadne ſorglos auf der Inſel Dia ein, die ſpäter Naxos genannt wurde. Da erſchien ihm der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/314
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/314>, abgerufen am 22.11.2024.