Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Als der Held vor den König Augias trat, und ohne
etwas von dem Auftrage des Eurystheus zu erwähnen, sich
zu dem genannten Dienste erbot, maß dieser die herrliche
Gestalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen
unterdrücken, wenn er dachte, daß einen so edlen Krieger
nach so gemeinem Knechtsdienste gelüsten könne. Indes¬
sen dachte er bei sich: der Eigennutz hat schon manchen
wackern Mann verführt; es mag sein, daß er sich an mir
bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf
ihm immerhin einen großen Lohn versprechen, wenn er
mir den ganzen Stall ausmistet, denn er wird in dem
einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum sprach
er getrost: "Höre, Fremdling, wenn du das kannst, und
mir an einem Tage all den Mist herausschaffest, so will
ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehstandes zur
Belohnung überlassen." Herkules ging die Bedingung ein,
und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu
schaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er
zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬
nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬
hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬
von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen
Kanal herzu, und ließ sie den Mist wegspülen und durch
eine andere Oeffnung wieder ausströmen. So vollzog er
einen schmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung sich zu
erniedrigen, die eines Unsterblichen unwürdig gewesen
wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules
aus Auftrag des Eurystheus geschehen sey, verweigerte er
den Lohn und läugnete geradezu, ihn versprochen zu haben;
doch erklärte er sich bereit, die Streitsache einem richter¬
lichen Spruche anheim zu stellen. Als die Richter bei¬

Als der Held vor den König Augias trat, und ohne
etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich
zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche
Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen
unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger
nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬
ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen
wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir
bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf
ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er
mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem
einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach
er getroſt: „Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und
mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will
ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur
Belohnung überlaſſen.“ Herkules ging die Bedingung ein,
und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu
ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er
zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬
nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬
hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬
von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen
Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch
eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er
einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu
erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen
wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules
aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er
den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben;
doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬
lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0249" n="223"/>
            <p>Als der Held vor den König Augias trat, und ohne<lb/>
etwas von dem Auftrage des Eury&#x017F;theus zu erwähnen, &#x017F;ich<lb/>
zu dem genannten Dien&#x017F;te erbot, maß die&#x017F;er die herrliche<lb/>
Ge&#x017F;talt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen<lb/>
unterdrücken, wenn er dachte, daß einen &#x017F;o edlen Krieger<lb/>
nach &#x017F;o gemeinem Knechtsdien&#x017F;te gelü&#x017F;ten könne. Inde&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en dachte er bei &#x017F;ich: der Eigennutz hat &#x017F;chon manchen<lb/>
wackern Mann verführt; es mag &#x017F;ein, daß er &#x017F;ich an mir<lb/>
bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf<lb/>
ihm immerhin einen großen Lohn ver&#x017F;prechen, wenn er<lb/>
mir den ganzen Stall ausmi&#x017F;tet, denn er wird in dem<lb/>
einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum &#x017F;prach<lb/>
er getro&#x017F;t: &#x201E;Höre, Fremdling, wenn du das kann&#x017F;t, und<lb/>
mir an einem Tage all den Mi&#x017F;t heraus&#x017F;chaffe&#x017F;t, &#x017F;o will<lb/>
ich dir den zehnten Theil meines ganzen Vieh&#x017F;tandes zur<lb/>
Belohnung überla&#x017F;&#x017F;en.&#x201C; Herkules ging die Bedingung ein,<lb/>
und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu<lb/>
&#x017F;chaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er<lb/>
zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬<lb/>
nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬<lb/>
hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬<lb/>
von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen<lb/>
Kanal herzu, und ließ &#x017F;ie den Mi&#x017F;t weg&#x017F;pülen und durch<lb/>
eine andere Oeffnung wieder aus&#x017F;trömen. So vollzog er<lb/>
einen &#x017F;chmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung &#x017F;ich zu<lb/>
erniedrigen, die eines Un&#x017F;terblichen unwürdig gewe&#x017F;en<lb/>
wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules<lb/>
aus Auftrag des Eury&#x017F;theus ge&#x017F;chehen &#x017F;ey, verweigerte er<lb/>
den Lohn und läugnete geradezu, ihn ver&#x017F;prochen zu haben;<lb/>
doch erklärte er &#x017F;ich bereit, die Streit&#x017F;ache einem richter¬<lb/>
lichen Spruche anheim zu &#x017F;tellen. Als die Richter bei¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0249] Als der Held vor den König Augias trat, und ohne etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬ ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach er getroſt: „Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur Belohnung überlaſſen.“ Herkules ging die Bedingung ein, und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬ nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬ hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬ von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben; doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬ lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/249
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/249>, abgerufen am 23.11.2024.