Als der Held vor den König Augias trat, und ohne etwas von dem Auftrage des Eurystheus zu erwähnen, sich zu dem genannten Dienste erbot, maß dieser die herrliche Gestalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen unterdrücken, wenn er dachte, daß einen so edlen Krieger nach so gemeinem Knechtsdienste gelüsten könne. Indes¬ sen dachte er bei sich: der Eigennutz hat schon manchen wackern Mann verführt; es mag sein, daß er sich an mir bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf ihm immerhin einen großen Lohn versprechen, wenn er mir den ganzen Stall ausmistet, denn er wird in dem einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum sprach er getrost: "Höre, Fremdling, wenn du das kannst, und mir an einem Tage all den Mist herausschaffest, so will ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehstandes zur Belohnung überlassen." Herkules ging die Bedingung ein, und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu schaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬ nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬ hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬ von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen Kanal herzu, und ließ sie den Mist wegspülen und durch eine andere Oeffnung wieder ausströmen. So vollzog er einen schmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung sich zu erniedrigen, die eines Unsterblichen unwürdig gewesen wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules aus Auftrag des Eurystheus geschehen sey, verweigerte er den Lohn und läugnete geradezu, ihn versprochen zu haben; doch erklärte er sich bereit, die Streitsache einem richter¬ lichen Spruche anheim zu stellen. Als die Richter bei¬
Als der Held vor den König Augias trat, und ohne etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬ ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach er getroſt: „Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur Belohnung überlaſſen.“ Herkules ging die Bedingung ein, und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬ nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬ hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬ von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben; doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬ lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬
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Als der Held vor den König Augias trat, und ohne
etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich
zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche
Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen
unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger
nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬
ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen
wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir
bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf
ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er
mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem
einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach
er getroſt: „Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und
mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will
ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur
Belohnung überlaſſen.“ Herkules ging die Bedingung ein,
und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu
ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er
zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬
nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬
hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬
von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen
Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch
eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er
einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu
erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen
wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules
aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er
den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben;
doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬
lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/249>, abgerufen am 23.11.2024.
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