Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

"zum Beschirmer dieser Meeresgegend gesetzt. Sehet, dort
wo das Wasser schwarz aus der Tiefe sprudelt, dort ist
der schmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer:
dorthin rudert; guten Wind will ich euch schicken. Dann
seyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsinsel!" Lustig
stiegen sie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die
Schulter und verschwand damit in den Fluthen. Nun
kamen sie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬
gefochten nach der Felseninsel Karpathos und wollten von
da nach dem herrlichen Eilande Kreta überschiffen. Der
Wächter dieser Insel war aber der schreckliche Riese Ta¬
los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Geschlechte
der Menschen, welche einst Buchen entsprossen waren,
und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬
schenkt, daß er dreimal des Tages, mit seinen ehernen
Füßen, die Runde auf der Insel machen sollte. Dieser
war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬
lich, nur am einen Knöchel hatte er eine fleischerne Sehne
und eine Ader, darinn Blut floß. Wer diese Stelle wußte
und sie treffen konnte, durfte gewiß seyn ihn zu tödten,
denn er war nicht unsterblich. Als die Helden auf die
Insel zuruderten, stand er auf einer der äußersten Klip¬
pen mit seiner Wacht beschäftigt; sobald er ihrer ansichtig
ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an sie gegen
das herannahende Schiff zu schleudern. Erschrocken ruder¬
ten die Argonauten rückwärts; sie hätten, obwohl auf's
neue von Durst geplagt, das schöne Kreta auf der Seite
gelassen, hätte sich nicht Medea erhoben und den Er¬
schrockenen zugeredet: "Höret mich, Männer! Ich weiß
wie dieses Ungeheuer zu bändigen ist. Haltet das Schiff
nur außerhalb der Steinwurfweite!" Dann hob sie die

„zum Beſchirmer dieſer Meeresgegend geſetzt. Sehet, dort
wo das Waſſer ſchwarz aus der Tiefe ſprudelt, dort iſt
der ſchmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer:
dorthin rudert; guten Wind will ich euch ſchicken. Dann
ſeyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsinſel!“ Luſtig
ſtiegen ſie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die
Schulter und verſchwand damit in den Fluthen. Nun
kamen ſie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬
gefochten nach der Felſeninſel Karpathos und wollten von
da nach dem herrlichen Eilande Kreta überſchiffen. Der
Wächter dieſer Inſel war aber der ſchreckliche Rieſe Ta¬
los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Geſchlechte
der Menſchen, welche einſt Buchen entſproſſen waren,
und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬
ſchenkt, daß er dreimal des Tages, mit ſeinen ehernen
Füßen, die Runde auf der Inſel machen ſollte. Dieſer
war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬
lich, nur am einen Knöchel hatte er eine fleiſcherne Sehne
und eine Ader, darinn Blut floß. Wer dieſe Stelle wußte
und ſie treffen konnte, durfte gewiß ſeyn ihn zu tödten,
denn er war nicht unſterblich. Als die Helden auf die
Inſel zuruderten, ſtand er auf einer der äußerſten Klip¬
pen mit ſeiner Wacht beſchäftigt; ſobald er ihrer anſichtig
ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an ſie gegen
das herannahende Schiff zu ſchleudern. Erſchrocken ruder¬
ten die Argonauten rückwärts; ſie hätten, obwohl auf's
neue von Durſt geplagt, das ſchöne Kreta auf der Seite
gelaſſen, hätte ſich nicht Medea erhoben und den Er¬
ſchrockenen zugeredet: „Höret mich, Männer! Ich weiß
wie dieſes Ungeheuer zu bändigen iſt. Haltet das Schiff
nur außerhalb der Steinwurfweite!“ Dann hob ſie die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0193" n="167"/>
&#x201E;zum Be&#x017F;chirmer die&#x017F;er Meeresgegend ge&#x017F;etzt. Sehet, dort<lb/>
wo das Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chwarz aus der Tiefe &#x017F;prudelt, dort i&#x017F;t<lb/>
der &#x017F;chmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer:<lb/>
dorthin rudert; guten Wind will ich euch &#x017F;chicken. Dann<lb/>
&#x017F;eyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsin&#x017F;el!&#x201C; Lu&#x017F;tig<lb/>
&#x017F;tiegen &#x017F;ie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die<lb/>
Schulter und ver&#x017F;chwand damit in den Fluthen. Nun<lb/>
kamen &#x017F;ie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬<lb/>
gefochten nach der Fel&#x017F;enin&#x017F;el Karpathos und wollten von<lb/>
da nach dem herrlichen Eilande Kreta über&#x017F;chiffen. Der<lb/>
Wächter die&#x017F;er In&#x017F;el war aber der &#x017F;chreckliche Rie&#x017F;e Ta¬<lb/>
los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Ge&#x017F;chlechte<lb/>
der Men&#x017F;chen, welche ein&#x017F;t Buchen ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en waren,<lb/>
und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬<lb/>
&#x017F;chenkt, daß er dreimal des Tages, mit &#x017F;einen ehernen<lb/>
Füßen, die Runde auf der In&#x017F;el machen &#x017F;ollte. Die&#x017F;er<lb/>
war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬<lb/>
lich, nur am einen Knöchel hatte er eine flei&#x017F;cherne Sehne<lb/>
und eine Ader, darinn Blut floß. Wer die&#x017F;e Stelle wußte<lb/>
und &#x017F;ie treffen konnte, durfte gewiß &#x017F;eyn ihn zu tödten,<lb/>
denn er war nicht un&#x017F;terblich. Als die Helden auf die<lb/>
In&#x017F;el zuruderten, &#x017F;tand er auf einer der äußer&#x017F;ten Klip¬<lb/>
pen mit &#x017F;einer Wacht be&#x017F;chäftigt; &#x017F;obald er ihrer an&#x017F;ichtig<lb/>
ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an &#x017F;ie gegen<lb/>
das herannahende Schiff zu &#x017F;chleudern. Er&#x017F;chrocken ruder¬<lb/>
ten die Argonauten rückwärts; &#x017F;ie hätten, obwohl auf's<lb/>
neue von Dur&#x017F;t geplagt, das &#x017F;chöne Kreta auf der Seite<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;en, hätte &#x017F;ich nicht Medea erhoben und den Er¬<lb/>
&#x017F;chrockenen zugeredet: &#x201E;Höret mich, Männer! Ich weiß<lb/>
wie die&#x017F;es Ungeheuer zu bändigen i&#x017F;t. Haltet das Schiff<lb/>
nur außerhalb der Steinwurfweite!&#x201C; Dann hob &#x017F;ie die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0193] „zum Beſchirmer dieſer Meeresgegend geſetzt. Sehet, dort wo das Waſſer ſchwarz aus der Tiefe ſprudelt, dort iſt der ſchmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer: dorthin rudert; guten Wind will ich euch ſchicken. Dann ſeyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsinſel!“ Luſtig ſtiegen ſie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die Schulter und verſchwand damit in den Fluthen. Nun kamen ſie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬ gefochten nach der Felſeninſel Karpathos und wollten von da nach dem herrlichen Eilande Kreta überſchiffen. Der Wächter dieſer Inſel war aber der ſchreckliche Rieſe Ta¬ los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Geſchlechte der Menſchen, welche einſt Buchen entſproſſen waren, und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬ ſchenkt, daß er dreimal des Tages, mit ſeinen ehernen Füßen, die Runde auf der Inſel machen ſollte. Dieſer war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬ lich, nur am einen Knöchel hatte er eine fleiſcherne Sehne und eine Ader, darinn Blut floß. Wer dieſe Stelle wußte und ſie treffen konnte, durfte gewiß ſeyn ihn zu tödten, denn er war nicht unſterblich. Als die Helden auf die Inſel zuruderten, ſtand er auf einer der äußerſten Klip¬ pen mit ſeiner Wacht beſchäftigt; ſobald er ihrer anſichtig ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an ſie gegen das herannahende Schiff zu ſchleudern. Erſchrocken ruder¬ ten die Argonauten rückwärts; ſie hätten, obwohl auf's neue von Durſt geplagt, das ſchöne Kreta auf der Seite gelaſſen, hätte ſich nicht Medea erhoben und den Er¬ ſchrockenen zugeredet: „Höret mich, Männer! Ich weiß wie dieſes Ungeheuer zu bändigen iſt. Haltet das Schiff nur außerhalb der Steinwurfweite!“ Dann hob ſie die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/193
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/193>, abgerufen am 05.05.2024.