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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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nem Vater! Alles ist verrathen und keine Hülfe mehr;
laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die schnellen Rosse be¬
steigt; das goldne Vließ will ich euch verschaffen, indem
ich den Drachen einschläfere. Du aber, o Fremdling,
schwöre mir zu den Göttern vor deinen Genossen, daß
du mich Verwaiste in der Fremde nicht beschimpfen
willst!" So sprach sie traurig und erfreute Jasons Herz.
Er hub die ins Knie Gesunkene sanft vom Boden auf,
umfaßte sie und sprach: "Geliebte, Jupiter und Juno,
die Beschirmerin der Ehe, seyen meine Zeugen, daß ich
nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige
Gattin in mein Haus einführen will!" So schwor er
und legte seine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea
die Helden noch in der Nacht das Schiff nach dem hei¬
ligen Haine rudern, um dort das goldne Vließ zu ent¬
führen. Die Helden fuhren mit dem Schiffe davon, Ja¬
son und die Jungfrau gingen über den Pfad einer Wiese
dem Haine zu. Dort suchten sie den hohen Eichbaum, --
an welchem das goldene Vließ hing, stralend durch die
Nacht, einer Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehen¬
den Sonne beschienen wird. Gegenüber aber reckte der
schlaflose Drache, aus scharfen Augen in die Ferne blickend,
seinen langen Hals den Herannahenden entgegen und
zischte fürchterlich, daß die Ufer des Flusses und der
ganze große Hain widerhallte. Wie über einen ange¬
zündeten Wald die Flammen sich hinwälzen, so rollte
das Unthier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen
Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck
entgegen, sie rief mit süßer Stimme den Schlaf, den
mächtigsten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen;
sie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorha¬

nem Vater! Alles iſt verrathen und keine Hülfe mehr;
laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die ſchnellen Roſſe be¬
ſteigt; das goldne Vließ will ich euch verſchaffen, indem
ich den Drachen einſchläfere. Du aber, o Fremdling,
ſchwöre mir zu den Göttern vor deinen Genoſſen, daß
du mich Verwaiſte in der Fremde nicht beſchimpfen
willſt!“ So ſprach ſie traurig und erfreute Jaſons Herz.
Er hub die ins Knie Geſunkene ſanft vom Boden auf,
umfaßte ſie und ſprach: „Geliebte, Jupiter und Juno,
die Beſchirmerin der Ehe, ſeyen meine Zeugen, daß ich
nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige
Gattin in mein Haus einführen will!“ So ſchwor er
und legte ſeine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea
die Helden noch in der Nacht das Schiff nach dem hei¬
ligen Haine rudern, um dort das goldne Vließ zu ent¬
führen. Die Helden fuhren mit dem Schiffe davon, Ja¬
ſon und die Jungfrau gingen über den Pfad einer Wieſe
dem Haine zu. Dort ſuchten ſie den hohen Eichbaum, —
an welchem das goldene Vließ hing, ſtralend durch die
Nacht, einer Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehen¬
den Sonne beſchienen wird. Gegenüber aber reckte der
ſchlafloſe Drache, aus ſcharfen Augen in die Ferne blickend,
ſeinen langen Hals den Herannahenden entgegen und
ziſchte fürchterlich, daß die Ufer des Fluſſes und der
ganze große Hain widerhallte. Wie über einen ange¬
zündeten Wald die Flammen ſich hinwälzen, ſo rollte
das Unthier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen
Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck
entgegen, ſie rief mit ſüßer Stimme den Schlaf, den
mächtigſten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen;
ſie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorha¬

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[146/0172] nem Vater! Alles iſt verrathen und keine Hülfe mehr; laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die ſchnellen Roſſe be¬ ſteigt; das goldne Vließ will ich euch verſchaffen, indem ich den Drachen einſchläfere. Du aber, o Fremdling, ſchwöre mir zu den Göttern vor deinen Genoſſen, daß du mich Verwaiſte in der Fremde nicht beſchimpfen willſt!“ So ſprach ſie traurig und erfreute Jaſons Herz. Er hub die ins Knie Geſunkene ſanft vom Boden auf, umfaßte ſie und ſprach: „Geliebte, Jupiter und Juno, die Beſchirmerin der Ehe, ſeyen meine Zeugen, daß ich nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige Gattin in mein Haus einführen will!“ So ſchwor er und legte ſeine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea die Helden noch in der Nacht das Schiff nach dem hei¬ ligen Haine rudern, um dort das goldne Vließ zu ent¬ führen. Die Helden fuhren mit dem Schiffe davon, Ja¬ ſon und die Jungfrau gingen über den Pfad einer Wieſe dem Haine zu. Dort ſuchten ſie den hohen Eichbaum, — an welchem das goldene Vließ hing, ſtralend durch die Nacht, einer Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehen¬ den Sonne beſchienen wird. Gegenüber aber reckte der ſchlafloſe Drache, aus ſcharfen Augen in die Ferne blickend, ſeinen langen Hals den Herannahenden entgegen und ziſchte fürchterlich, daß die Ufer des Fluſſes und der ganze große Hain widerhallte. Wie über einen ange¬ zündeten Wald die Flammen ſich hinwälzen, ſo rollte das Unthier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck entgegen, ſie rief mit ſüßer Stimme den Schlaf, den mächtigſten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen; ſie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorha¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/172>, abgerufen am 24.11.2024.