ihn mit Hülfe seines Bruders von der Qual der Har¬ pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten sie ihm ein Mahl, das der räuberischen Vögel letztes seyn sollte. Kaum hatte der König die Speise berührt, als die Vögel, wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelschlag aus den Wolken herabgestürzt kamen und sich gierig auf die Spei¬ sen setzten. Die Helden schrieen laut auf; aber die Har¬ pyien ließen sich nicht stören, sie blieben, bis sie alles aufgezehrt hatten, dann schwangen sie sich wieder in die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück. Aber Zethes und Kalais, die Boreassöhne, verfolgten sie mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche und unermüdliche Kraft, die sie wohl brauchen konnten, denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem schnellsten Westwinde zuvor. Aber die Boreassöhne waren rüstig hinter ihnen drein, und oft meinten sie die Ungeheuer schon mit Händen greifen zu können. Endlich waren sie ihnen so nahe, daß sie dieselben ohne Zweifel erlegt hät¬ ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, sich aus dem Aether herabsenkte und das Heldenpaar so anredete: "Nicht ist's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬ hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte zu fällen. Doch schwöre ich euch den großen Göttereid beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor nicht mehr beunruhigen sollen." Die Söhne des Boreas wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.
Unterdessen pflegten die griechischen Helden den Leib des Greisen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬ den den Ausgehungerten dazu ein. Dieser verzehrte gie¬ rig die reinen und reichlichen Speisen, es war ihm, als weidete sich sein Hunger im Traume. Während sie die
ihn mit Hülfe ſeines Bruders von der Qual der Har¬ pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten ſie ihm ein Mahl, das der räuberiſchen Vögel letztes ſeyn ſollte. Kaum hatte der König die Speiſe berührt, als die Vögel, wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelſchlag aus den Wolken herabgeſtürzt kamen und ſich gierig auf die Spei¬ ſen ſetzten. Die Helden ſchrieen laut auf; aber die Har¬ pyien ließen ſich nicht ſtören, ſie blieben, bis ſie alles aufgezehrt hatten, dann ſchwangen ſie ſich wieder in die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück. Aber Zethes und Kalais, die Boreasſöhne, verfolgten ſie mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche und unermüdliche Kraft, die ſie wohl brauchen konnten, denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem ſchnellſten Weſtwinde zuvor. Aber die Boreasſöhne waren rüſtig hinter ihnen drein, und oft meinten ſie die Ungeheuer ſchon mit Händen greifen zu können. Endlich waren ſie ihnen ſo nahe, daß ſie dieſelben ohne Zweifel erlegt hät¬ ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, ſich aus dem Aether herabſenkte und das Heldenpaar ſo anredete: „Nicht iſt's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬ hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte zu fällen. Doch ſchwöre ich euch den großen Göttereid beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor nicht mehr beunruhigen ſollen.“ Die Söhne des Boreas wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.
Unterdeſſen pflegten die griechiſchen Helden den Leib des Greiſen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬ den den Ausgehungerten dazu ein. Dieſer verzehrte gie¬ rig die reinen und reichlichen Speiſen, es war ihm, als weidete ſich ſein Hunger im Traume. Während ſie die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0136"n="110"/>
ihn mit Hülfe ſeines Bruders von der Qual der Har¬<lb/>
pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten ſie ihm<lb/>
ein Mahl, das der räuberiſchen Vögel letztes ſeyn ſollte.<lb/>
Kaum hatte der König die Speiſe berührt, als die Vögel,<lb/>
wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelſchlag aus den<lb/>
Wolken herabgeſtürzt kamen und ſich gierig auf die Spei¬<lb/>ſen ſetzten. Die Helden ſchrieen laut auf; aber die Har¬<lb/>
pyien ließen ſich nicht ſtören, ſie blieben, bis ſie alles<lb/>
aufgezehrt hatten, dann ſchwangen ſie ſich wieder in<lb/>
die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück.<lb/>
Aber Zethes und Kalais, die Boreasſöhne, verfolgten ſie<lb/>
mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche<lb/>
und unermüdliche Kraft, die ſie wohl brauchen konnten,<lb/>
denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem ſchnellſten<lb/>
Weſtwinde zuvor. Aber die Boreasſöhne waren rüſtig<lb/>
hinter ihnen drein, und oft meinten ſie die Ungeheuer<lb/>ſchon mit Händen greifen zu können. Endlich waren ſie<lb/>
ihnen ſo nahe, daß ſie dieſelben ohne Zweifel erlegt hät¬<lb/>
ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, ſich aus dem<lb/>
Aether herabſenkte und das Heldenpaar ſo anredete:<lb/>„Nicht iſt's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬<lb/>
hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte<lb/>
zu fällen. Doch ſchwöre ich euch den großen Göttereid<lb/>
beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor<lb/>
nicht mehr beunruhigen ſollen.“ Die Söhne des Boreas<lb/>
wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.</p><lb/><p>Unterdeſſen pflegten die griechiſchen Helden den Leib<lb/>
des Greiſen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬<lb/>
den den Ausgehungerten dazu ein. Dieſer verzehrte gie¬<lb/>
rig die reinen und reichlichen Speiſen, es war ihm, als<lb/>
weidete ſich ſein Hunger im Traume. Während ſie die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[110/0136]
ihn mit Hülfe ſeines Bruders von der Qual der Har¬
pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten ſie ihm
ein Mahl, das der räuberiſchen Vögel letztes ſeyn ſollte.
Kaum hatte der König die Speiſe berührt, als die Vögel,
wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelſchlag aus den
Wolken herabgeſtürzt kamen und ſich gierig auf die Spei¬
ſen ſetzten. Die Helden ſchrieen laut auf; aber die Har¬
pyien ließen ſich nicht ſtören, ſie blieben, bis ſie alles
aufgezehrt hatten, dann ſchwangen ſie ſich wieder in
die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück.
Aber Zethes und Kalais, die Boreasſöhne, verfolgten ſie
mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche
und unermüdliche Kraft, die ſie wohl brauchen konnten,
denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem ſchnellſten
Weſtwinde zuvor. Aber die Boreasſöhne waren rüſtig
hinter ihnen drein, und oft meinten ſie die Ungeheuer
ſchon mit Händen greifen zu können. Endlich waren ſie
ihnen ſo nahe, daß ſie dieſelben ohne Zweifel erlegt hät¬
ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, ſich aus dem
Aether herabſenkte und das Heldenpaar ſo anredete:
„Nicht iſt's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬
hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte
zu fällen. Doch ſchwöre ich euch den großen Göttereid
beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor
nicht mehr beunruhigen ſollen.“ Die Söhne des Boreas
wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.
Unterdeſſen pflegten die griechiſchen Helden den Leib
des Greiſen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬
den den Ausgehungerten dazu ein. Dieſer verzehrte gie¬
rig die reinen und reichlichen Speiſen, es war ihm, als
weidete ſich ſein Hunger im Traume. Während ſie die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/136>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.