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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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daß die Tanne dalag, nicht anders, denn als hätte sie
ein Sturm entwurzelt. Inzwischen hatte sich sein junger
Gefährte Hylas auch vom Tische der Genossen verloren.
Er war mit dem ehernen Kruge aufgestanden, um Was¬
ser für seinen Herrn und Freund zum Mahle zu schöpfen
und auch alles andere ihm für seine Rückkehr vorzube¬
reiten. Herkules hatte auf seinem Zuge gegen die Dryo¬
pen seinen Vater im Wortwechsel erschlagen, den Kna¬
ben aber aus dem Hause des Vaters mit sich genommen
und sich zum Diener und Freunde nachgezogen. Als
dieser schöne Jüngling an dem Quelle Wasser schöpfte,
leuchtete der Vollmond. Wie er sich nun eben mit dem
Kruge nach dem Wasserspiegel neigte, erblickte ihn die
Nymphe des Quelles. Von seiner Schönheit bethört,
schlang sie den linken Arm um ihn, mit der rechten er¬
griff sie seinen Ellenbogen und zog ihn so hinunter in
die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemus mit Namen,
der die Rückkehr des Herkules nicht ferne von jenem
Quell erwartete, hörte den Hülfeschrei des Knaben. Aber
er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Her¬
kules, der aus dem Walde zurückkam. "Unglücklicher,"
rief er ihm entgegen, "muß ich der Erste seyn, der Dir
die Trauerbotschaft melde! Dein Hylas ist zum Quelle
gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber führen
ihn gefangen davon, oder wilde Thiere zerreißen ihn;
ich selbst habe seinen Angstruf gehört." Dem Herkules
floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das
Blut wallte ihm gegen die Brust. Zornig warf er die
Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der
Bremse gestochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit
durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.

daß die Tanne dalag, nicht anders, denn als hätte ſie
ein Sturm entwurzelt. Inzwiſchen hatte ſich ſein junger
Gefährte Hylas auch vom Tiſche der Genoſſen verloren.
Er war mit dem ehernen Kruge aufgeſtanden, um Waſ¬
ſer für ſeinen Herrn und Freund zum Mahle zu ſchöpfen
und auch alles andere ihm für ſeine Rückkehr vorzube¬
reiten. Herkules hatte auf ſeinem Zuge gegen die Dryo¬
pen ſeinen Vater im Wortwechſel erſchlagen, den Kna¬
ben aber aus dem Hauſe des Vaters mit ſich genommen
und ſich zum Diener und Freunde nachgezogen. Als
dieſer ſchöne Jüngling an dem Quelle Waſſer ſchöpfte,
leuchtete der Vollmond. Wie er ſich nun eben mit dem
Kruge nach dem Waſſerſpiegel neigte, erblickte ihn die
Nymphe des Quelles. Von ſeiner Schönheit bethört,
ſchlang ſie den linken Arm um ihn, mit der rechten er¬
griff ſie ſeinen Ellenbogen und zog ihn ſo hinunter in
die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemus mit Namen,
der die Rückkehr des Herkules nicht ferne von jenem
Quell erwartete, hörte den Hülfeſchrei des Knaben. Aber
er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Her¬
kules, der aus dem Walde zurückkam. „Unglücklicher,“
rief er ihm entgegen, „muß ich der Erſte ſeyn, der Dir
die Trauerbotſchaft melde! Dein Hylas iſt zum Quelle
gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber führen
ihn gefangen davon, oder wilde Thiere zerreißen ihn;
ich ſelbſt habe ſeinen Angſtruf gehört.“ Dem Herkules
floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das
Blut wallte ihm gegen die Bruſt. Zornig warf er die
Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der
Bremſe geſtochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit
durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.

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[104/0130] daß die Tanne dalag, nicht anders, denn als hätte ſie ein Sturm entwurzelt. Inzwiſchen hatte ſich ſein junger Gefährte Hylas auch vom Tiſche der Genoſſen verloren. Er war mit dem ehernen Kruge aufgeſtanden, um Waſ¬ ſer für ſeinen Herrn und Freund zum Mahle zu ſchöpfen und auch alles andere ihm für ſeine Rückkehr vorzube¬ reiten. Herkules hatte auf ſeinem Zuge gegen die Dryo¬ pen ſeinen Vater im Wortwechſel erſchlagen, den Kna¬ ben aber aus dem Hauſe des Vaters mit ſich genommen und ſich zum Diener und Freunde nachgezogen. Als dieſer ſchöne Jüngling an dem Quelle Waſſer ſchöpfte, leuchtete der Vollmond. Wie er ſich nun eben mit dem Kruge nach dem Waſſerſpiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quelles. Von ſeiner Schönheit bethört, ſchlang ſie den linken Arm um ihn, mit der rechten er¬ griff ſie ſeinen Ellenbogen und zog ihn ſo hinunter in die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemus mit Namen, der die Rückkehr des Herkules nicht ferne von jenem Quell erwartete, hörte den Hülfeſchrei des Knaben. Aber er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Her¬ kules, der aus dem Walde zurückkam. „Unglücklicher,“ rief er ihm entgegen, „muß ich der Erſte ſeyn, der Dir die Trauerbotſchaft melde! Dein Hylas iſt zum Quelle gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber führen ihn gefangen davon, oder wilde Thiere zerreißen ihn; ich ſelbſt habe ſeinen Angſtruf gehört.“ Dem Herkules floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das Blut wallte ihm gegen die Bruſt. Zornig warf er die Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der Bremſe geſtochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/130>, abgerufen am 24.11.2024.