Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sich fortzuziehen, und eilte die Thüre zu den Gemächern aufzuwerfen, welche zur Aufnahme der Fremden bestimmt waren. Sie athmete erleichtet auf, als sie das junge Paar endlich über die Schwelle des wohnlichen, blumengeschmückten Eckzimmerchens treten sah. Es lachte sie wie ein wahres kleines Eldorado an. Hattest du nicht einmal einen Teppich, Leonore? fragte Joseph verstimmt. Soll ich hier schlafen? Kann der schwere Betthimmel nicht einstürzen? Ich fürchte mich so. Es ist auch kein Toilettenspiegel da -- sagte die junge Dame. Leonore stand auf Kohlen. Du mußt dich für heute Abend begnügen, Christine, sagte Joseph etwas barsch. Wir wollen uns morgen einrichten, wie du es wünschest. Die Dame verlangte nach ihrer Kammerfrau, welche, unterstützt von Gertruden, Koffer und Cartons aus dem Wagen herbeizuschleppen begann und dann mit ihrer Gebieterin allein blieb. Joseph setzte sich zu seiner Schwester in den blauen Salon. Leonore hatte vor diesem ersten Alleinsein mit Joseph eine grenzenlose Angst. Sie mußte eine Flut von Fragen erwarten. Und welche Erklärungen sollte sie geben? Es war ihr seit je unmöglich gewesen, zu lügen. Und nun saß sie mitten in einer großen Lüge fest -- ihr Bruder war obendrein so schlau und argwöhnisch. Doch, es ging weit besser, als sie gehofft hatte. sich fortzuziehen, und eilte die Thüre zu den Gemächern aufzuwerfen, welche zur Aufnahme der Fremden bestimmt waren. Sie athmete erleichtet auf, als sie das junge Paar endlich über die Schwelle des wohnlichen, blumengeschmückten Eckzimmerchens treten sah. Es lachte sie wie ein wahres kleines Eldorado an. Hattest du nicht einmal einen Teppich, Leonore? fragte Joseph verstimmt. Soll ich hier schlafen? Kann der schwere Betthimmel nicht einstürzen? Ich fürchte mich so. Es ist auch kein Toilettenspiegel da — sagte die junge Dame. Leonore stand auf Kohlen. Du mußt dich für heute Abend begnügen, Christine, sagte Joseph etwas barsch. Wir wollen uns morgen einrichten, wie du es wünschest. Die Dame verlangte nach ihrer Kammerfrau, welche, unterstützt von Gertruden, Koffer und Cartons aus dem Wagen herbeizuschleppen begann und dann mit ihrer Gebieterin allein blieb. Joseph setzte sich zu seiner Schwester in den blauen Salon. Leonore hatte vor diesem ersten Alleinsein mit Joseph eine grenzenlose Angst. Sie mußte eine Flut von Fragen erwarten. Und welche Erklärungen sollte sie geben? Es war ihr seit je unmöglich gewesen, zu lügen. Und nun saß sie mitten in einer großen Lüge fest — ihr Bruder war obendrein so schlau und argwöhnisch. Doch, es ging weit besser, als sie gehofft hatte. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0054"/> sich fortzuziehen, und eilte die Thüre zu den Gemächern aufzuwerfen, welche zur Aufnahme der Fremden bestimmt waren. Sie athmete erleichtet auf, als sie das junge Paar endlich über die Schwelle des wohnlichen, blumengeschmückten Eckzimmerchens treten sah. Es lachte sie wie ein wahres kleines Eldorado an.</p><lb/> <p>Hattest du nicht einmal einen Teppich, Leonore? fragte Joseph verstimmt.</p><lb/> <p>Soll ich hier schlafen? Kann der schwere Betthimmel nicht einstürzen? Ich fürchte mich so. Es ist auch kein Toilettenspiegel da — sagte die junge Dame.</p><lb/> <p>Leonore stand auf Kohlen.</p><lb/> <p>Du mußt dich für heute Abend begnügen, Christine, sagte Joseph etwas barsch. Wir wollen uns morgen einrichten, wie du es wünschest.</p><lb/> <p>Die Dame verlangte nach ihrer Kammerfrau, welche, unterstützt von Gertruden, Koffer und Cartons aus dem Wagen herbeizuschleppen begann und dann mit ihrer Gebieterin allein blieb.</p><lb/> <p>Joseph setzte sich zu seiner Schwester in den blauen Salon. Leonore hatte vor diesem ersten Alleinsein mit Joseph eine grenzenlose Angst. Sie mußte eine Flut von Fragen erwarten. Und welche Erklärungen sollte sie geben? Es war ihr seit je unmöglich gewesen, zu lügen. Und nun saß sie mitten in einer großen Lüge fest — ihr Bruder war obendrein so schlau und argwöhnisch.</p><lb/> <p>Doch, es ging weit besser, als sie gehofft hatte.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
sich fortzuziehen, und eilte die Thüre zu den Gemächern aufzuwerfen, welche zur Aufnahme der Fremden bestimmt waren. Sie athmete erleichtet auf, als sie das junge Paar endlich über die Schwelle des wohnlichen, blumengeschmückten Eckzimmerchens treten sah. Es lachte sie wie ein wahres kleines Eldorado an.
Hattest du nicht einmal einen Teppich, Leonore? fragte Joseph verstimmt.
Soll ich hier schlafen? Kann der schwere Betthimmel nicht einstürzen? Ich fürchte mich so. Es ist auch kein Toilettenspiegel da — sagte die junge Dame.
Leonore stand auf Kohlen.
Du mußt dich für heute Abend begnügen, Christine, sagte Joseph etwas barsch. Wir wollen uns morgen einrichten, wie du es wünschest.
Die Dame verlangte nach ihrer Kammerfrau, welche, unterstützt von Gertruden, Koffer und Cartons aus dem Wagen herbeizuschleppen begann und dann mit ihrer Gebieterin allein blieb.
Joseph setzte sich zu seiner Schwester in den blauen Salon. Leonore hatte vor diesem ersten Alleinsein mit Joseph eine grenzenlose Angst. Sie mußte eine Flut von Fragen erwarten. Und welche Erklärungen sollte sie geben? Es war ihr seit je unmöglich gewesen, zu lügen. Und nun saß sie mitten in einer großen Lüge fest — ihr Bruder war obendrein so schlau und argwöhnisch.
Doch, es ging weit besser, als sie gehofft hatte.
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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T11:53:40Z)
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Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
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