Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Rand eines Abgrundes gelockt hatte. Dieser Morgen aber war der Wendepunkt ihres Lebens!

Als sie ihr Zimmer verlassen und heruntergegangen war, empfingen ihre Wirthe sie mit derselben schonenden, von aller Neugier fernen Herzlichkeit, wie am Abende zuvor. Philibert besonders schien es stillschweigend als einen ganz natürlichen Umstand zu betrachten, daß sie in seinem Hause sei. Leonore beruhigte sich von Stunde zu Stunde mehr. Es war auffallend, wie wenig endlich ihr Herz sich noch sträubte, ihm Alles anzuvertrauen, was sie ihm nothgedrungen anvertrauen mußte. Und wie hatte sie gestern noch vor diesem Augenblicke gezittert!

Sie sagte ihm, daß ihr Bruder sie auf eine Weise verrathen habe, welche es ihr unmöglich mache, zu ihm zurückzukehren: daß ihre einzige Zuflucht das Kloster ihrer Tante sei, und daß sie nicht anders könne, als von ihm, Philibert, begehren, sie dorthin zu bringen, wo sie eine traurige Verirrung ihres Herzens abbüßen wolle.

Philibert hörte sie stillschweigend an und brachte kein Wort über seine Lippen, obwohl er ein paar Mal zu reden versuchte. Er ging, um Bertram nach dem nächsten Orte zu senden und von dort einen Wagen zu schaffen. Als er zurückkehrte, war sie in den Garten gegangen und hatte sich auf die Steinbank einer Geisblattlaube gesetzt, um allein zu sein, denn eine vollständige Erschöpfung fing an, sich bei ihr geltend zu machen.

Philibert machte sich in ihrer Nähe zu schaffen und

Rand eines Abgrundes gelockt hatte. Dieser Morgen aber war der Wendepunkt ihres Lebens!

Als sie ihr Zimmer verlassen und heruntergegangen war, empfingen ihre Wirthe sie mit derselben schonenden, von aller Neugier fernen Herzlichkeit, wie am Abende zuvor. Philibert besonders schien es stillschweigend als einen ganz natürlichen Umstand zu betrachten, daß sie in seinem Hause sei. Leonore beruhigte sich von Stunde zu Stunde mehr. Es war auffallend, wie wenig endlich ihr Herz sich noch sträubte, ihm Alles anzuvertrauen, was sie ihm nothgedrungen anvertrauen mußte. Und wie hatte sie gestern noch vor diesem Augenblicke gezittert!

Sie sagte ihm, daß ihr Bruder sie auf eine Weise verrathen habe, welche es ihr unmöglich mache, zu ihm zurückzukehren: daß ihre einzige Zuflucht das Kloster ihrer Tante sei, und daß sie nicht anders könne, als von ihm, Philibert, begehren, sie dorthin zu bringen, wo sie eine traurige Verirrung ihres Herzens abbüßen wolle.

Philibert hörte sie stillschweigend an und brachte kein Wort über seine Lippen, obwohl er ein paar Mal zu reden versuchte. Er ging, um Bertram nach dem nächsten Orte zu senden und von dort einen Wagen zu schaffen. Als er zurückkehrte, war sie in den Garten gegangen und hatte sich auf die Steinbank einer Geisblattlaube gesetzt, um allein zu sein, denn eine vollständige Erschöpfung fing an, sich bei ihr geltend zu machen.

Philibert machte sich in ihrer Nähe zu schaffen und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="9">
        <p><pb facs="#f0118"/>
Rand      eines Abgrundes gelockt hatte. Dieser Morgen aber war der Wendepunkt ihres Lebens!</p><lb/>
        <p>Als sie ihr Zimmer verlassen und heruntergegangen war, empfingen ihre Wirthe sie mit      derselben schonenden, von aller Neugier fernen Herzlichkeit, wie am Abende zuvor. Philibert      besonders schien es stillschweigend als einen ganz natürlichen Umstand zu betrachten, daß sie      in seinem Hause sei. Leonore beruhigte sich von Stunde zu Stunde mehr. Es war auffallend, wie      wenig endlich ihr Herz sich noch sträubte, ihm Alles anzuvertrauen, was sie ihm nothgedrungen      anvertrauen mußte. Und wie hatte sie gestern noch vor diesem Augenblicke gezittert!</p><lb/>
        <p>Sie sagte ihm, daß ihr Bruder sie auf eine Weise verrathen habe, welche es ihr unmöglich      mache, zu ihm zurückzukehren: daß ihre einzige Zuflucht das Kloster ihrer Tante sei, und daß      sie nicht anders könne, als von ihm, Philibert, begehren, sie dorthin zu bringen, wo sie eine      traurige Verirrung ihres Herzens abbüßen wolle.</p><lb/>
        <p>Philibert hörte sie stillschweigend an und brachte kein Wort über seine Lippen, obwohl er ein      paar Mal zu reden versuchte. Er ging, um Bertram nach dem nächsten Orte zu senden und von dort      einen Wagen zu schaffen. Als er zurückkehrte, war sie in den Garten gegangen und hatte sich auf      die Steinbank einer Geisblattlaube gesetzt, um allein zu sein, denn eine vollständige      Erschöpfung fing an, sich bei ihr geltend zu machen.</p><lb/>
        <p>Philibert machte sich in ihrer Nähe zu schaffen und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Rand eines Abgrundes gelockt hatte. Dieser Morgen aber war der Wendepunkt ihres Lebens! Als sie ihr Zimmer verlassen und heruntergegangen war, empfingen ihre Wirthe sie mit derselben schonenden, von aller Neugier fernen Herzlichkeit, wie am Abende zuvor. Philibert besonders schien es stillschweigend als einen ganz natürlichen Umstand zu betrachten, daß sie in seinem Hause sei. Leonore beruhigte sich von Stunde zu Stunde mehr. Es war auffallend, wie wenig endlich ihr Herz sich noch sträubte, ihm Alles anzuvertrauen, was sie ihm nothgedrungen anvertrauen mußte. Und wie hatte sie gestern noch vor diesem Augenblicke gezittert! Sie sagte ihm, daß ihr Bruder sie auf eine Weise verrathen habe, welche es ihr unmöglich mache, zu ihm zurückzukehren: daß ihre einzige Zuflucht das Kloster ihrer Tante sei, und daß sie nicht anders könne, als von ihm, Philibert, begehren, sie dorthin zu bringen, wo sie eine traurige Verirrung ihres Herzens abbüßen wolle. Philibert hörte sie stillschweigend an und brachte kein Wort über seine Lippen, obwohl er ein paar Mal zu reden versuchte. Er ging, um Bertram nach dem nächsten Orte zu senden und von dort einen Wagen zu schaffen. Als er zurückkehrte, war sie in den Garten gegangen und hatte sich auf die Steinbank einer Geisblattlaube gesetzt, um allein zu sein, denn eine vollständige Erschöpfung fing an, sich bei ihr geltend zu machen. Philibert machte sich in ihrer Nähe zu schaffen und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/118
Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/118>, abgerufen am 23.11.2024.