Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.trigue eingefädelt hast, welche das Mädchen in den Tod trieb. Ich würde dich erdrosseln, Bube, mit meinen eigenen alten Händen! Wir müssen es zur Ehre Joseph's bekennen, daß er über seine Schlechtigkeit in diesem Augenblicke die tiefste Reue empfand. Eine Angst bemächtigte sich seiner, wie er in seinem Leben nicht gefühlt. Vater, Vater! rief er, an allen Gliedern zitternd, sprecht nicht so furchtbare Worte aus -- ich läge ja zehntausendmal lieber selbst auf dem Grunde des Stroms! Er stürzte hinaus, ins Dorf, er sandte Boten aus, zuerst einen in das Stift zur Tante, dann nach allen Richtungen -- besonders dem ersten aber sandte er seine Hoffnungen nach -- Leonore mußte sich zu ihrer Tante begeben haben -- das war ja das Natürlichste! Und doch brachte er eine fürchterliche Nacht, eine Nacht voll Sorge, voll Gewissensqual, voll Verzweiflung zu! Endlich dämmerte der Morgen -- aber er brachte keine Spur der Verschwundenen. Christine war in Thränen aufgelös't. Der Alte fluchte. Joseph ging umher wie ein Gespenst. Der Mittag kam, der Abend. Die Boten kehrten heim, einer nach dem andern -- jedem folgenden schlug das Herz Joseph's in stürmischerer Erwartung entgegen -- aber keiner brachte Nachricht. Niemand hatte Leonoren gesehen -- der letzte Bote kam -- auch bei der Tante war sie nicht! trigue eingefädelt hast, welche das Mädchen in den Tod trieb. Ich würde dich erdrosseln, Bube, mit meinen eigenen alten Händen! Wir müssen es zur Ehre Joseph's bekennen, daß er über seine Schlechtigkeit in diesem Augenblicke die tiefste Reue empfand. Eine Angst bemächtigte sich seiner, wie er in seinem Leben nicht gefühlt. Vater, Vater! rief er, an allen Gliedern zitternd, sprecht nicht so furchtbare Worte aus — ich läge ja zehntausendmal lieber selbst auf dem Grunde des Stroms! Er stürzte hinaus, ins Dorf, er sandte Boten aus, zuerst einen in das Stift zur Tante, dann nach allen Richtungen — besonders dem ersten aber sandte er seine Hoffnungen nach — Leonore mußte sich zu ihrer Tante begeben haben — das war ja das Natürlichste! Und doch brachte er eine fürchterliche Nacht, eine Nacht voll Sorge, voll Gewissensqual, voll Verzweiflung zu! Endlich dämmerte der Morgen — aber er brachte keine Spur der Verschwundenen. Christine war in Thränen aufgelös't. Der Alte fluchte. Joseph ging umher wie ein Gespenst. Der Mittag kam, der Abend. Die Boten kehrten heim, einer nach dem andern — jedem folgenden schlug das Herz Joseph's in stürmischerer Erwartung entgegen — aber keiner brachte Nachricht. Niemand hatte Leonoren gesehen — der letzte Bote kam — auch bei der Tante war sie nicht! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <p><pb facs="#f0110"/> trigue eingefädelt hast, welche das Mädchen in den Tod trieb. Ich würde dich erdrosseln, Bube, mit meinen eigenen alten Händen!</p><lb/> <p>Wir müssen es zur Ehre Joseph's bekennen, daß er über seine Schlechtigkeit in diesem Augenblicke die tiefste Reue empfand. Eine Angst bemächtigte sich seiner, wie er in seinem Leben nicht gefühlt.</p><lb/> <p>Vater, Vater! rief er, an allen Gliedern zitternd, sprecht nicht so furchtbare Worte aus — ich läge ja zehntausendmal lieber selbst auf dem Grunde des Stroms!</p><lb/> <p>Er stürzte hinaus, ins Dorf, er sandte Boten aus, zuerst einen in das Stift zur Tante, dann nach allen Richtungen — besonders dem ersten aber sandte er seine Hoffnungen nach — Leonore mußte sich zu ihrer Tante begeben haben — das war ja das Natürlichste!</p><lb/> <p>Und doch brachte er eine fürchterliche Nacht, eine Nacht voll Sorge, voll Gewissensqual, voll Verzweiflung zu!</p><lb/> <p>Endlich dämmerte der Morgen — aber er brachte keine Spur der Verschwundenen. Christine war in Thränen aufgelös't. Der Alte fluchte. Joseph ging umher wie ein Gespenst. Der Mittag kam, der Abend. Die Boten kehrten heim, einer nach dem andern — jedem folgenden schlug das Herz Joseph's in stürmischerer Erwartung entgegen — aber keiner brachte Nachricht. Niemand hatte Leonoren gesehen — der letzte Bote kam — auch bei der Tante war sie nicht!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0110]
trigue eingefädelt hast, welche das Mädchen in den Tod trieb. Ich würde dich erdrosseln, Bube, mit meinen eigenen alten Händen!
Wir müssen es zur Ehre Joseph's bekennen, daß er über seine Schlechtigkeit in diesem Augenblicke die tiefste Reue empfand. Eine Angst bemächtigte sich seiner, wie er in seinem Leben nicht gefühlt.
Vater, Vater! rief er, an allen Gliedern zitternd, sprecht nicht so furchtbare Worte aus — ich läge ja zehntausendmal lieber selbst auf dem Grunde des Stroms!
Er stürzte hinaus, ins Dorf, er sandte Boten aus, zuerst einen in das Stift zur Tante, dann nach allen Richtungen — besonders dem ersten aber sandte er seine Hoffnungen nach — Leonore mußte sich zu ihrer Tante begeben haben — das war ja das Natürlichste!
Und doch brachte er eine fürchterliche Nacht, eine Nacht voll Sorge, voll Gewissensqual, voll Verzweiflung zu!
Endlich dämmerte der Morgen — aber er brachte keine Spur der Verschwundenen. Christine war in Thränen aufgelös't. Der Alte fluchte. Joseph ging umher wie ein Gespenst. Der Mittag kam, der Abend. Die Boten kehrten heim, einer nach dem andern — jedem folgenden schlug das Herz Joseph's in stürmischerer Erwartung entgegen — aber keiner brachte Nachricht. Niemand hatte Leonoren gesehen — der letzte Bote kam — auch bei der Tante war sie nicht!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T11:53:40Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T11:53:40Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |