Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.es, aber ich kann dir nicht helfen! Es ist unmöglich, auf all deine einfältigen Capricen Rücksicht zu nehmen. Wir werden nach dem Tode deiner Eltern immer in Windschrot leben -- darauf mach dich gefaßt! Während Joseph so zu seiner Christine sprach, und zwar in einem Tone, den die arme kleine Frau zum ersten Male in ihrem Leben von ihm hörte -- es war gegen die Abendzeit des zweiten Tages nach dem Feste -- öffnete sich die Thüre, und ein Fremder trat in das Zimmer. Der Mann war bejahrt, bleich und hager, hoch von Wuchs, aber durch das Alter bereits etwas gekrümmt. Sein Antlitz war tief durchfurcht, heftige Leidenschaften und Begierden, die furchtbar in diesen ursprünglich schönen Zügen gehaus't haben mußten, hatten ihre Spuren darauf zurückgelassen. Zudem war das Gesicht entstellt durch einen abscheulichen grauen Stoppelbart, während das Haar lang und wirr um seinen Kopf hing. Seine Kleidung war abgerissen und beinahe zerlumpt. Wer hat den Bettler hereingelassen? Fort mit Euch! rief Joseph zornig. Sephchen -- mein Söhnchen -- kennst du mich nicht mehr? sagte der Fremde und wollte die Hand Joseph's ergreifen. Dieser stand bleich, zitternd, wie an den Boden genagelt. Der alte Baron Windschrot -- denn Niemand es, aber ich kann dir nicht helfen! Es ist unmöglich, auf all deine einfältigen Capricen Rücksicht zu nehmen. Wir werden nach dem Tode deiner Eltern immer in Windschrot leben — darauf mach dich gefaßt! Während Joseph so zu seiner Christine sprach, und zwar in einem Tone, den die arme kleine Frau zum ersten Male in ihrem Leben von ihm hörte — es war gegen die Abendzeit des zweiten Tages nach dem Feste — öffnete sich die Thüre, und ein Fremder trat in das Zimmer. Der Mann war bejahrt, bleich und hager, hoch von Wuchs, aber durch das Alter bereits etwas gekrümmt. Sein Antlitz war tief durchfurcht, heftige Leidenschaften und Begierden, die furchtbar in diesen ursprünglich schönen Zügen gehaus't haben mußten, hatten ihre Spuren darauf zurückgelassen. Zudem war das Gesicht entstellt durch einen abscheulichen grauen Stoppelbart, während das Haar lang und wirr um seinen Kopf hing. Seine Kleidung war abgerissen und beinahe zerlumpt. Wer hat den Bettler hereingelassen? Fort mit Euch! rief Joseph zornig. Sephchen — mein Söhnchen — kennst du mich nicht mehr? sagte der Fremde und wollte die Hand Joseph's ergreifen. Dieser stand bleich, zitternd, wie an den Boden genagelt. Der alte Baron Windschrot — denn Niemand <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <p><pb facs="#f0104"/> es, aber ich kann dir nicht helfen! Es ist unmöglich, auf all deine einfältigen Capricen Rücksicht zu nehmen. Wir werden nach dem Tode deiner Eltern immer in Windschrot leben — darauf mach dich gefaßt!</p><lb/> <p>Während Joseph so zu seiner Christine sprach, und zwar in einem Tone, den die arme kleine Frau zum ersten Male in ihrem Leben von ihm hörte — es war gegen die Abendzeit des zweiten Tages nach dem Feste — öffnete sich die Thüre, und ein Fremder trat in das Zimmer.</p><lb/> <p>Der Mann war bejahrt, bleich und hager, hoch von Wuchs, aber durch das Alter bereits etwas gekrümmt. Sein Antlitz war tief durchfurcht, heftige Leidenschaften und Begierden, die furchtbar in diesen ursprünglich schönen Zügen gehaus't haben mußten, hatten ihre Spuren darauf zurückgelassen. Zudem war das Gesicht entstellt durch einen abscheulichen grauen Stoppelbart, während das Haar lang und wirr um seinen Kopf hing. Seine Kleidung war abgerissen und beinahe zerlumpt.</p><lb/> <p>Wer hat den Bettler hereingelassen? Fort mit Euch! rief Joseph zornig.</p><lb/> <p>Sephchen — mein Söhnchen — kennst du mich nicht mehr? sagte der Fremde und wollte die Hand Joseph's ergreifen.</p><lb/> <p>Dieser stand bleich, zitternd, wie an den Boden genagelt.</p><lb/> <p>Der alte Baron Windschrot — denn Niemand<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0104]
es, aber ich kann dir nicht helfen! Es ist unmöglich, auf all deine einfältigen Capricen Rücksicht zu nehmen. Wir werden nach dem Tode deiner Eltern immer in Windschrot leben — darauf mach dich gefaßt!
Während Joseph so zu seiner Christine sprach, und zwar in einem Tone, den die arme kleine Frau zum ersten Male in ihrem Leben von ihm hörte — es war gegen die Abendzeit des zweiten Tages nach dem Feste — öffnete sich die Thüre, und ein Fremder trat in das Zimmer.
Der Mann war bejahrt, bleich und hager, hoch von Wuchs, aber durch das Alter bereits etwas gekrümmt. Sein Antlitz war tief durchfurcht, heftige Leidenschaften und Begierden, die furchtbar in diesen ursprünglich schönen Zügen gehaus't haben mußten, hatten ihre Spuren darauf zurückgelassen. Zudem war das Gesicht entstellt durch einen abscheulichen grauen Stoppelbart, während das Haar lang und wirr um seinen Kopf hing. Seine Kleidung war abgerissen und beinahe zerlumpt.
Wer hat den Bettler hereingelassen? Fort mit Euch! rief Joseph zornig.
Sephchen — mein Söhnchen — kennst du mich nicht mehr? sagte der Fremde und wollte die Hand Joseph's ergreifen.
Dieser stand bleich, zitternd, wie an den Boden genagelt.
Der alte Baron Windschrot — denn Niemand
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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T11:53:40Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T11:53:40Z)
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