Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert-Feder, Cläre: Das Leben der Studentinnen in Zürich. Berlin, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

pflegt sich der "Verkehr" auf das stillschweigende Grüßen
zu beschränken, was übrigens durchaus nicht obligatorisch,
sondern ein freiwilliger Achtungsbeweis des Collegen für
die Collegin ist. Die Chemikerin, die Medizinerin hat bei
den practischen Uebungen öfters Anlaß oder Ursache, mit
den männlichen Commilitonen eine kurze Unterhaltung zu
führen, die fast immer rein sachlicher Natur und oft für
beide Theile lehrreich ist; die Philosophin hingegen nicht.



Das factische Verhältniß der männlichen und weib-
lichen Studenten zu einander wird vielleicht am einfachsten
charakterisirt durch das an sich völlig harmlose, kleine Be-
gegniß, welches meinen Eintritt in die Universität be-
zeichnete. Jch habe noch kurze Zeit bei Gottfried Kinkel
Collegien hören können, und Kinkel war es, der mich auf
der Hochschule einführte. Jch war vorher in schriftlicher
Verbindung mit ihm gewesen, und er erwies sich mir bis
zu seinem Tode als aufrichtig wohlgesinnt. Jhn also durfte
ich im Professorenzimmer abholen, als die Stunde meines
ersten Collegs geschlagen hatte, und hinter seinem breiten
Rücken hoffte ich unbemerkt in das große Auditorium zu
schlüpfen, in welchem er seine Vorlesungen über Kunst-
und Literaturgeschichte hielt, die stets auch von Damen,
vielfach von Damen der Züricher Gesellschaft, besucht waren.
Aber so hatte Gottfried Kinkel nicht gewettet: Ostentativ
machte er die Thür weit auf und sagte laut und nach-
drücklich mit seiner wuchtigen Stimme: "So, mein liebes
Fräulein, da nehmen Sie nur hier Platz!" Damit wurde
ich natürlich zur Zielscheibe aller Blicke, und es langte mir
kaum der Muth, meinen Hut an die schon reichbeladenen
Kleiderriegel aufzuhängen. Nach Schluß des Collegs ging

pflegt sich der „Verkehr“ auf das stillschweigende Grüßen
zu beschränken, was übrigens durchaus nicht obligatorisch,
sondern ein freiwilliger Achtungsbeweis des Collegen für
die Collegin ist. Die Chemikerin, die Medizinerin hat bei
den practischen Uebungen öfters Anlaß oder Ursache, mit
den männlichen Commilitonen eine kurze Unterhaltung zu
führen, die fast immer rein sachlicher Natur und oft für
beide Theile lehrreich ist; die Philosophin hingegen nicht.



Das factische Verhältniß der männlichen und weib-
lichen Studenten zu einander wird vielleicht am einfachsten
charakterisirt durch das an sich völlig harmlose, kleine Be-
gegniß, welches meinen Eintritt in die Universität be-
zeichnete. Jch habe noch kurze Zeit bei Gottfried Kinkel
Collegien hören können, und Kinkel war es, der mich auf
der Hochschule einführte. Jch war vorher in schriftlicher
Verbindung mit ihm gewesen, und er erwies sich mir bis
zu seinem Tode als aufrichtig wohlgesinnt. Jhn also durfte
ich im Professorenzimmer abholen, als die Stunde meines
ersten Collegs geschlagen hatte, und hinter seinem breiten
Rücken hoffte ich unbemerkt in das große Auditorium zu
schlüpfen, in welchem er seine Vorlesungen über Kunst-
und Literaturgeschichte hielt, die stets auch von Damen,
vielfach von Damen der Züricher Gesellschaft, besucht waren.
Aber so hatte Gottfried Kinkel nicht gewettet: Ostentativ
machte er die Thür weit auf und sagte laut und nach-
drücklich mit seiner wuchtigen Stimme: „So, mein liebes
Fräulein, da nehmen Sie nur hier Platz!“ Damit wurde
ich natürlich zur Zielscheibe aller Blicke, und es langte mir
kaum der Muth, meinen Hut an die schon reichbeladenen
Kleiderriegel aufzuhängen. Nach Schluß des Collegs ging

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0016" n="13"/>
pflegt sich der &#x201E;Verkehr&#x201C; auf das stillschweigende Grüßen<lb/>
zu beschränken, was übrigens durchaus nicht obligatorisch,<lb/>
sondern ein freiwilliger Achtungsbeweis des Collegen für<lb/>
die Collegin ist. Die Chemikerin, die Medizinerin hat bei<lb/>
den practischen Uebungen öfters Anlaß oder Ursache, mit<lb/>
den männlichen Commilitonen eine kurze Unterhaltung zu<lb/>
führen, die fast immer rein sachlicher Natur und oft für<lb/>
beide Theile lehrreich ist; die Philosophin hingegen nicht.</p><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <p>Das factische Verhältniß der männlichen und weib-<lb/>
lichen Studenten zu einander wird vielleicht am einfachsten<lb/>
charakterisirt durch das an sich völlig harmlose, kleine Be-<lb/>
gegniß, welches meinen Eintritt in die Universität be-<lb/>
zeichnete. Jch habe noch kurze Zeit bei Gottfried Kinkel<lb/>
Collegien hören können, und Kinkel war es, der mich auf<lb/>
der Hochschule einführte. Jch war vorher in schriftlicher<lb/>
Verbindung mit ihm gewesen, und er erwies sich mir bis<lb/>
zu seinem Tode als aufrichtig wohlgesinnt. Jhn also durfte<lb/>
ich im Professorenzimmer abholen, als die Stunde meines<lb/>
ersten Collegs geschlagen hatte, und hinter seinem breiten<lb/>
Rücken hoffte ich unbemerkt in das große Auditorium zu<lb/>
schlüpfen, in welchem er seine Vorlesungen über Kunst-<lb/>
und Literaturgeschichte hielt, die stets auch von Damen,<lb/>
vielfach von Damen der Züricher Gesellschaft, besucht waren.<lb/>
Aber so hatte Gottfried Kinkel nicht gewettet: Ostentativ<lb/>
machte er die Thür weit auf und sagte laut und nach-<lb/>
drücklich mit seiner wuchtigen Stimme: &#x201E;So, mein liebes<lb/>
Fräulein, da nehmen Sie nur hier Platz!&#x201C; Damit wurde<lb/>
ich natürlich zur Zielscheibe aller Blicke, und es langte mir<lb/>
kaum der Muth, meinen Hut an die schon reichbeladenen<lb/>
Kleiderriegel aufzuhängen. Nach Schluß des Collegs ging<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0016] pflegt sich der „Verkehr“ auf das stillschweigende Grüßen zu beschränken, was übrigens durchaus nicht obligatorisch, sondern ein freiwilliger Achtungsbeweis des Collegen für die Collegin ist. Die Chemikerin, die Medizinerin hat bei den practischen Uebungen öfters Anlaß oder Ursache, mit den männlichen Commilitonen eine kurze Unterhaltung zu führen, die fast immer rein sachlicher Natur und oft für beide Theile lehrreich ist; die Philosophin hingegen nicht. Das factische Verhältniß der männlichen und weib- lichen Studenten zu einander wird vielleicht am einfachsten charakterisirt durch das an sich völlig harmlose, kleine Be- gegniß, welches meinen Eintritt in die Universität be- zeichnete. Jch habe noch kurze Zeit bei Gottfried Kinkel Collegien hören können, und Kinkel war es, der mich auf der Hochschule einführte. Jch war vorher in schriftlicher Verbindung mit ihm gewesen, und er erwies sich mir bis zu seinem Tode als aufrichtig wohlgesinnt. Jhn also durfte ich im Professorenzimmer abholen, als die Stunde meines ersten Collegs geschlagen hatte, und hinter seinem breiten Rücken hoffte ich unbemerkt in das große Auditorium zu schlüpfen, in welchem er seine Vorlesungen über Kunst- und Literaturgeschichte hielt, die stets auch von Damen, vielfach von Damen der Züricher Gesellschaft, besucht waren. Aber so hatte Gottfried Kinkel nicht gewettet: Ostentativ machte er die Thür weit auf und sagte laut und nach- drücklich mit seiner wuchtigen Stimme: „So, mein liebes Fräulein, da nehmen Sie nur hier Platz!“ Damit wurde ich natürlich zur Zielscheibe aller Blicke, und es langte mir kaum der Muth, meinen Hut an die schon reichbeladenen Kleiderriegel aufzuhängen. Nach Schluß des Collegs ging

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-17T10:02:05Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-17T10:02:05Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubertfeder_studentinnen_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubertfeder_studentinnen_1894/16
Zitationshilfe: Schubert-Feder, Cläre: Das Leben der Studentinnen in Zürich. Berlin, 1894, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubertfeder_studentinnen_1894/16>, abgerufen am 21.11.2024.