sey bisher fast durchaus verkannt worden, und erst bey den vielseitigeren Ansichten der letzten Jahrzehende er- öffne sich das Innre ihres tiefen, weisen Sinnes. Wenn die Sprache durch Mittheilung der von ver- schiednen Individuen verschieden aufgefaßten Natur- laute (thierischer Stimmen z. B.) entstanden, als die Menschen von der äußren Noth zur Gesellschaft ge- zwungen worden, und sich von den unvollkommensten Anfängen allmählig entwickelt hat, wie kommt es, daß, wie sich beweisen läßt, die vollkommnere Spra- che -- die metrische, früher gewesen als die Prosa? Denn nicht etwa Griechenland allein erwähnt des er- sten Gebrauchs der ungebundnen Rede als einer neuen Erfindung, sondern es ist die Mythologie, diese älte- ste historische Urkunde der alten Welt, von den Ufern des Ganges bis zu der Küste des Eismeers, in Versen enthalten, und auch die ältesten astronomischen Beob- achtungen und Naturtheorien der asiatischen Völker, sind in Gedichten bewahrt.
Wenn Mangel und Dürftigkeit dem Menschen die Wissenschaften gelehrt, warum hat sich die alte Welt gerade mit solchen Untersuchungen am meisten und an- gelegentlichsten beschäftigt, welche, wie zum Theil mei- ne heutige Vorlesung zeigen wird, mit der Nothdurft des Lebens in gar keinem unmittelbaren Zusammenhang stunden?
Selbst jene sogenannten wilden Völker, die zu der gewöhnlichen Vorstellung von dem Naturzustand des
ſey bisher faſt durchaus verkannt worden, und erſt bey den vielſeitigeren Anſichten der letzten Jahrzehende er- oͤffne ſich das Innre ihres tiefen, weiſen Sinnes. Wenn die Sprache durch Mittheilung der von ver- ſchiednen Individuen verſchieden aufgefaßten Natur- laute (thieriſcher Stimmen z. B.) entſtanden, als die Menſchen von der aͤußren Noth zur Geſellſchaft ge- zwungen worden, und ſich von den unvollkommenſten Anfaͤngen allmaͤhlig entwickelt hat, wie kommt es, daß, wie ſich beweiſen laͤßt, die vollkommnere Spra- che — die metriſche, fruͤher geweſen als die Proſa? Denn nicht etwa Griechenland allein erwaͤhnt des er- ſten Gebrauchs der ungebundnen Rede als einer neuen Erfindung, ſondern es iſt die Mythologie, dieſe aͤlte- ſte hiſtoriſche Urkunde der alten Welt, von den Ufern des Ganges bis zu der Kuͤſte des Eismeers, in Verſen enthalten, und auch die aͤlteſten aſtronomiſchen Beob- achtungen und Naturtheorien der aſiatiſchen Voͤlker, ſind in Gedichten bewahrt.
Wenn Mangel und Duͤrftigkeit dem Menſchen die Wiſſenſchaften gelehrt, warum hat ſich die alte Welt gerade mit ſolchen Unterſuchungen am meiſten und an- gelegentlichſten beſchaͤftigt, welche, wie zum Theil mei- ne heutige Vorleſung zeigen wird, mit der Nothdurft des Lebens in gar keinem unmittelbaren Zuſammenhang ſtunden?
Selbſt jene ſogenannten wilden Voͤlker, die zu der gewoͤhnlichen Vorſtellung von dem Naturzuſtand des
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ſey bisher faſt durchaus verkannt worden, und erſt bey
den vielſeitigeren Anſichten der letzten Jahrzehende er-
oͤffne ſich das Innre ihres tiefen, weiſen Sinnes.
Wenn die Sprache durch Mittheilung der von ver-
ſchiednen Individuen verſchieden aufgefaßten Natur-
laute (thieriſcher Stimmen z. B.) entſtanden, als die
Menſchen von der aͤußren Noth zur Geſellſchaft ge-
zwungen worden, und ſich von den unvollkommenſten
Anfaͤngen allmaͤhlig entwickelt hat, wie kommt es,
daß, wie ſich beweiſen laͤßt, die vollkommnere Spra-
che — die metriſche, fruͤher geweſen als die Proſa?
Denn nicht etwa Griechenland allein erwaͤhnt des er-
ſten Gebrauchs der ungebundnen Rede als einer neuen
Erfindung, ſondern es iſt die Mythologie, dieſe aͤlte-
ſte hiſtoriſche Urkunde der alten Welt, von den Ufern
des Ganges bis zu der Kuͤſte des Eismeers, in Verſen
enthalten, und auch die aͤlteſten aſtronomiſchen Beob-
achtungen und Naturtheorien der aſiatiſchen Voͤlker,
ſind in Gedichten bewahrt.
Wenn Mangel und Duͤrftigkeit dem Menſchen die
Wiſſenſchaften gelehrt, warum hat ſich die alte Welt
gerade mit ſolchen Unterſuchungen am meiſten und an-
gelegentlichſten beſchaͤftigt, welche, wie zum Theil mei-
ne heutige Vorleſung zeigen wird, mit der Nothdurft
des Lebens in gar keinem unmittelbaren Zuſammenhang
ſtunden?
Selbſt jene ſogenannten wilden Voͤlker, die zu der
gewoͤhnlichen Vorſtellung von dem Naturzuſtand des
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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/40>, abgerufen am 23.11.2024.
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