Die Logik, wenn sie -- ebenso für relative wie für absolute Begriffe -- die Methoden und Schemata des Folgerns und Schliessens entwickeln will, kann natürlich nicht umhin darnach zu streben, dass sie auch möglichst vollständig registrire und schematisire: die apriorischen, selbstverständlichen, identischen, analytischen oder nichtssagenden Urteile oder "Wahrheiten" als diejenigen, auf welche bei jeglichem Schliessen jederzeit Berufung erfolgen kann.
Wer aber auf solche Evidenz beim Aufbau unsrer Theorie sich berufen wollte, der würde sich bald zur Anerkennung einer ganz über- grossen Menge von eigenartigen "Prinzipien" genötigt sehen und die Klage des Herrn Venn1p. 400 sq. gerechtfertigt erscheinen lassen: dass an Stelle des einen "simple and uniform set of rules", des so einfachen Systems von Grundsätzen der alten Logik, wir beim Eintritt in die Logik der Relative uns sogleich vor eine verblüffend grosse und verwirrende Mannigfaltigkeit von solchen gestellt sehen (are intro- duced into a most perplexing variety of them).
Neben oder ausser den in § 3 zusammengestellten fundamentalen Konventionen bedürfen wir in der That in der Theorie keines weiteren "Prinzipes". Und wenn die Frage aufgeworfen wird nach den axioma- tischen Grundlagen unsrer Disziplin der Algebra und Logik der Rela- tive, so kann ich Herrn Peirce beipflichten, der sich über diese Frage am Schlusse von 2 ausspricht. Die Grundlagen sind vom selben Range, sind keine andern, als wie die bekannten "Prinzipien" der allgemeinen Logik. Im Gegensatz zur Geometrie bedürfen Logik und Arithmetik keiner eigentlichen "Axiome".
Um nicht missverstanden zu werden, muss ich einschalten: Freilich kann auch die Geometrie betrachtet werden lediglich unter dem formalen Gesichtspunkte der Folgerichtigkeit ihres Lehrgebäudes. Natürlich können deren sogenannte Axiome auch hingestellt werden als blosse Annahmen, vielleicht ganz willkürliche Assumtionen, um deren Erfülltsein, Gültigkeit, Wahrheit in irgend einem Denkbereiche man sich absolut nicht kümmert, man sich enthält, im Geringsten etwas zu behaupten. Die geometrischen Sätze werden alsdann blos relative Wahrheit beanspruchen dürfen, werden immer nur zuzugeben sein, soferne eben jene Voraussetzungen zutreffen. Gemeinhin, und meines Erachtens mit Recht geschieht aber dergleichen nicht. Die geometrischen Axiome werden vielmehr gelehrt, hingestellt und angenommen mit dem Anspruche auf reale Geltung, Wahrheit, sei es für unsre subjektive Raumanschauung sei es für das derselben objektiv zu- grunde liegend gedachte Wirkliche. Und diese Axiome sind keineswegs analytische oder nichtssagende Urteile; mögen sie auch zufolge der Be- schaffenheit, Natur unsres räumlichen Anschauungsvermögens "psychologisch denknotwendig" genannt werden, so kommt ihnen doch keine Denknot- wendigkeit im logischen Sinne zu, und die Geometrie ist mehr als ein blosser Zweig der Logik; sie ist das elementarste Glied in der grossen Reihe der physikalischen Wissenschaften. Anders die Arithmetik.
5*
§ 4. Über die axiomatischen Grundlagen.
Die Logik, wenn sie — ebenso für relative wie für absolute Begriffe — die Methoden und Schemata des Folgerns und Schliessens entwickeln will, kann natürlich nicht umhin darnach zu streben, dass sie auch möglichst vollständig registrire und schematisire: die apriorischen, selbstverständlichen, identischen, analytischen oder nichtssagenden Urteile oder „Wahrheiten“ als diejenigen, auf welche bei jeglichem Schliessen jederzeit Berufung erfolgen kann.
Wer aber auf solche Evidenz beim Aufbau unsrer Theorie sich berufen wollte, der würde sich bald zur Anerkennung einer ganz über- grossen Menge von eigenartigen „Prinzipien“ genötigt sehen und die Klage des Herrn Venn1p. 400 sq. gerechtfertigt erscheinen lassen: dass an Stelle des einen „simple and uniform set of rules“, des so einfachen Systems von Grundsätzen der alten Logik, wir beim Eintritt in die Logik der Relative uns sogleich vor eine verblüffend grosse und verwirrende Mannigfaltigkeit von solchen gestellt sehen (are intro- duced into a most perplexing variety of them).
Neben oder ausser den in § 3 zusammengestellten fundamentalen Konventionen bedürfen wir in der That in der Theorie keines weiteren „Prinzipes“. Und wenn die Frage aufgeworfen wird nach den axioma- tischen Grundlagen unsrer Disziplin der Algebra und Logik der Rela- tive, so kann ich Herrn Peirce beipflichten, der sich über diese Frage am Schlusse von 2 ausspricht. Die Grundlagen sind vom selben Range, sind keine andern, als wie die bekannten „Prinzipien“ der allgemeinen Logik. Im Gegensatz zur Geometrie bedürfen Logik und Arithmetik keiner eigentlichen „Axiome“.
Um nicht missverstanden zu werden, muss ich einschalten: Freilich kann auch die Geometrie betrachtet werden lediglich unter dem formalen Gesichtspunkte der Folgerichtigkeit ihres Lehrgebäudes. Natürlich können deren sogenannte Axiome auch hingestellt werden als blosse Annahmen, vielleicht ganz willkürliche Assumtionen, um deren Erfülltsein, Gültigkeit, Wahrheit in irgend einem Denkbereiche man sich absolut nicht kümmert, man sich enthält, im Geringsten etwas zu behaupten. Die geometrischen Sätze werden alsdann blos relative Wahrheit beanspruchen dürfen, werden immer nur zuzugeben sein, soferne eben jene Voraussetzungen zutreffen. Gemeinhin, und meines Erachtens mit Recht geschieht aber dergleichen nicht. Die geometrischen Axiome werden vielmehr gelehrt, hingestellt und angenommen mit dem Anspruche auf reale Geltung, Wahrheit, sei es für unsre subjektive Raumanschauung sei es für das derselben objektiv zu- grunde liegend gedachte Wirkliche. Und diese Axiome sind keineswegs analytische oder nichtssagende Urteile; mögen sie auch zufolge der Be- schaffenheit, Natur unsres räumlichen Anschauungsvermögens „psychologisch denknotwendig“ genannt werden, so kommt ihnen doch keine Denknot- wendigkeit im logischen Sinne zu, und die Geometrie ist mehr als ein blosser Zweig der Logik; sie ist das elementarste Glied in der grossen Reihe der physikalischen Wissenschaften. Anders die Arithmetik.
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§ 4. Über die axiomatischen Grundlagen.
Die Logik, wenn sie — ebenso für relative wie für absolute Begriffe —
die Methoden und Schemata des Folgerns und Schliessens entwickeln will,
kann natürlich nicht umhin darnach zu streben, dass sie auch möglichst
vollständig registrire und schematisire: die apriorischen, selbstverständlichen,
identischen, analytischen oder nichtssagenden Urteile oder „Wahrheiten“ als
diejenigen, auf welche bei jeglichem Schliessen jederzeit Berufung erfolgen kann.
Wer aber auf solche Evidenz beim Aufbau unsrer Theorie sich
berufen wollte, der würde sich bald zur Anerkennung einer ganz über-
grossen Menge von eigenartigen „Prinzipien“ genötigt sehen und die
Klage des Herrn Venn 1p. 400 sq. gerechtfertigt erscheinen lassen:
dass an Stelle des einen „simple and uniform set of rules“, des so
einfachen Systems von Grundsätzen der alten Logik, wir beim Eintritt
in die Logik der Relative uns sogleich vor eine verblüffend grosse
und verwirrende Mannigfaltigkeit von solchen gestellt sehen (are intro-
duced into a most perplexing variety of them).
Neben oder ausser den in § 3 zusammengestellten fundamentalen
Konventionen bedürfen wir in der That in der Theorie keines weiteren
„Prinzipes“. Und wenn die Frage aufgeworfen wird nach den axioma-
tischen Grundlagen unsrer Disziplin der Algebra und Logik der Rela-
tive, so kann ich Herrn Peirce beipflichten, der sich über diese Frage
am Schlusse von 2 ausspricht. Die Grundlagen sind vom selben Range,
sind keine andern, als wie die bekannten „Prinzipien“ der allgemeinen
Logik. Im Gegensatz zur Geometrie bedürfen Logik und Arithmetik
keiner eigentlichen „Axiome“.
Um nicht missverstanden zu werden, muss ich einschalten: Freilich
kann auch die Geometrie betrachtet werden lediglich unter dem formalen
Gesichtspunkte der Folgerichtigkeit ihres Lehrgebäudes. Natürlich können
deren sogenannte Axiome auch hingestellt werden als blosse Annahmen,
vielleicht ganz willkürliche Assumtionen, um deren Erfülltsein, Gültigkeit,
Wahrheit in irgend einem Denkbereiche man sich absolut nicht kümmert,
man sich enthält, im Geringsten etwas zu behaupten. Die geometrischen
Sätze werden alsdann blos relative Wahrheit beanspruchen dürfen, werden
immer nur zuzugeben sein, soferne eben jene Voraussetzungen zutreffen.
Gemeinhin, und meines Erachtens mit Recht geschieht aber dergleichen
nicht. Die geometrischen Axiome werden vielmehr gelehrt, hingestellt und
angenommen mit dem Anspruche auf reale Geltung, Wahrheit, sei es für
unsre subjektive Raumanschauung sei es für das derselben objektiv zu-
grunde liegend gedachte Wirkliche. Und diese Axiome sind keineswegs
analytische oder nichtssagende Urteile; mögen sie auch zufolge der Be-
schaffenheit, Natur unsres räumlichen Anschauungsvermögens „psychologisch
denknotwendig“ genannt werden, so kommt ihnen doch keine Denknot-
wendigkeit im logischen Sinne zu, und die Geometrie ist mehr als ein
blosser Zweig der Logik; sie ist das elementarste Glied in der grossen
Reihe der physikalischen Wissenschaften. Anders die Arithmetik.
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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 3, Abt. 1. Leipzig, 1895, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik03_1895/81>, abgerufen am 27.07.2024.
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