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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
nämlich Zeichen dafür brauchet, damit er nicht nötig habe, die Sache jedes-
mal, so oft sie vorkommt, von neuem zu bedenken. Daher, wenn er sie
einmal wohl gefasst, begnügt er sich hernach oft, nicht nur in äusserlichen
Reden, sondern auch in Gedanken und innerlichem Selbstgespräch, das
Wort an die Stelle der Sache zu setzen. Und gleichwie ein Rechenmeister,
der keine Zahl schreiben wollte, deren (In-) Halt er nicht zugleich bedächte
und gleichsam an den Fingern abzählete, wie man die Uhr(schläge) zählt,
nimmer mit der Rechnung fertig werden würde: also, wenn man im Reden
und auch selbst in Gedanken kein Wort sprechen (passiren lassen) wollte,
ohne sich ein eigentliches Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde
man überaus langsam sprechen, oder vielmehr verstummen müssen, auch
den Lauf der Gedanken nothwendig hemmen, also im Reden und Denken
nicht weit kommen. Daher braucht man oft die Worte als Ziffern oder
als Rechenpfennige, anstatt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise
zum Facit schreitet und beim Vernunftschluss (? Endergebniss der Über-
legung) zur Sache selbst gelanget. Woraus erscheinet, wie ein Grosses
daran gelegen, dass die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-
zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häufig,
leichtfliessend und angenehm seien."

"Wenn der Geometer", sagt Leibniz in demselben Sinne in einer
andern Schrift (Fundamenta calculi ratiocinatoris, Editio Erdmann, p. 92),
"sooft er im Beweisen eine Hyperbel oder eine Spirale nennt, immer ge-
nötigt wäre, ihre Erklärungen oder Entstehungsweisen oder wieder die
Erklärungen der diese bildenden Begriffe sich genau vor Augen zu stellen,
so würde er sehr langsam zu neuen Entdekungen gelangen; wenn der Arith-
metiker beim Rechnen die Werte aller Ziffern und die Menge der Ein-
heiten nacheinander dächte, so würde er nie weitläufige Rechnungen zu
Ende bringen, und es wäre nicht anders, als wenn er statt der Ziffern
soviele Steinchen anwenden wollte; und der Rechtsgelehrte kann nicht
immer, sooft er die Aktionen, die Exzeptionen oder die Rechtswohlthaten
erwähnt, die wesentlichen Erfordernisse dieser Dinge, welche oft weitläufig
sind, im Geiste durchlaufen, und hat es auch nicht nötig."

Wie man sieht, berührt hier Leibniz schon den bedeutsamen
Unterschied, welcher zwischen unmittelbaren (oder "intuitiven") und
mittelbaren (symbolischen) Vorstellungen besteht.

Man kann z. B. die fünfhundert Billionen Schwingungen, welche in
einem gelben Lichtstrahl an irgend einer Stelle in der Sekunde vor sich
gehen, sich nicht im eigentlichen Sinn des Wortes "vorstellen", weil das
ganze Leben des Menschen auch beim Alter des Methusalem nicht aus-
reicht, um auch nur einer einzigen Billion sich mit Gedankenschnelle
folgender Vorstellungen, Empfindungen oder Wahrnehmungen als getrennter
Dinge inne zu werden -- ganz abgesehen von der ihrer Kleinheit wegen auch
nicht mehr vorstellbaren Einzelschwingung oder Bewegung eines Teilchens
in seiner zum Strahl senkrechten elliptischen oder kreisförmigen Bahn (so
wenigstens für den Standpunkt der Fresnel'schen Undulationstheorie,
welcher neuerdings aber eine elektrodynamische Theorie des Lichts -- von
Maxwell, nach den erstaunlichen Entdeckungen von Hertz wol siegreich --

Einleitung.
nämlich Zeichen dafür brauchet, damit er nicht nötig habe, die Sache jedes-
mal, so oft sie vorkommt, von neuem zu bedenken. Daher, wenn er sie
einmal wohl gefasst, begnügt er sich hernach oft, nicht nur in äusserlichen
Reden, sondern auch in Gedanken und innerlichem Selbstgespräch, das
Wort an die Stelle der Sache zu setzen. Und gleichwie ein Rechenmeister,
der keine Zahl schreiben wollte, deren (In-) Halt er nicht zugleich bedächte
und gleichsam an den Fingern abzählete, wie man die Uhr(schläge) zählt,
nimmer mit der Rechnung fertig werden würde: also, wenn man im Reden
und auch selbst in Gedanken kein Wort sprechen (passiren lassen) wollte,
ohne sich ein eigentliches Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde
man überaus langsam sprechen, oder vielmehr verstummen müssen, auch
den Lauf der Gedanken nothwendig hemmen, also im Reden und Denken
nicht weit kommen. Daher braucht man oft die Worte als Ziffern oder
als Rechenpfennige, anstatt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise
zum Facit schreitet und beim Vernunftschluss (? Endergebniss der Über-
legung) zur Sache selbst gelanget. Woraus erscheinet, wie ein Grosses
daran gelegen, dass die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-
zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häufig,
leichtfliessend und angenehm seien.“

„Wenn der Geometer“, sagt Leibniz in demselben Sinne in einer
andern Schrift (Fundamenta calculi ratiocinatoris, Editio Erdmann, p. 92),
„sooft er im Beweisen eine Hyperbel oder eine Spirale nennt, immer ge-
nötigt wäre, ihre Erklärungen oder Entstehungsweisen oder wieder die
Erklärungen der diese bildenden Begriffe sich genau vor Augen zu stellen,
so würde er sehr langsam zu neuen Entdekungen gelangen; wenn der Arith-
metiker beim Rechnen die Werte aller Ziffern und die Menge der Ein-
heiten nacheinander dächte, so würde er nie weitläufige Rechnungen zu
Ende bringen, und es wäre nicht anders, als wenn er statt der Ziffern
soviele Steinchen anwenden wollte; und der Rechtsgelehrte kann nicht
immer, sooft er die Aktionen, die Exzeptionen oder die Rechtswohlthaten
erwähnt, die wesentlichen Erfordernisse dieser Dinge, welche oft weitläufig
sind, im Geiste durchlaufen, und hat es auch nicht nötig.“

Wie man sieht, berührt hier Leibniz schon den bedeutsamen
Unterschied, welcher zwischen unmittelbaren (oder „intuitiven“) und
mittelbaren (symbolischen) Vorstellungen besteht.

Man kann z. B. die fünfhundert Billionen Schwingungen, welche in
einem gelben Lichtstrahl an irgend einer Stelle in der Sekunde vor sich
gehen, sich nicht im eigentlichen Sinn des Wortes „vorstellen“, weil das
ganze Leben des Menschen auch beim Alter des Methusalem nicht aus-
reicht, um auch nur einer einzigen Billion sich mit Gedankenschnelle
folgender Vorstellungen, Empfindungen oder Wahrnehmungen als getrennter
Dinge inne zu werden — ganz abgesehen von der ihrer Kleinheit wegen auch
nicht mehr vorstellbaren Einzelschwingung oder Bewegung eines Teilchens
in seiner zum Strahl senkrechten elliptischen oder kreisförmigen Bahn (so
wenigstens für den Standpunkt der Fresnel'schen Undulationstheorie,
welcher neuerdings aber eine elektrodynamische Theorie des Lichts — von
Maxwell, nach den erstaunlichen Entdeckungen von Hertz wol siegreich —

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[41/0061] Einleitung. nämlich Zeichen dafür brauchet, damit er nicht nötig habe, die Sache jedes- mal, so oft sie vorkommt, von neuem zu bedenken. Daher, wenn er sie einmal wohl gefasst, begnügt er sich hernach oft, nicht nur in äusserlichen Reden, sondern auch in Gedanken und innerlichem Selbstgespräch, das Wort an die Stelle der Sache zu setzen. Und gleichwie ein Rechenmeister, der keine Zahl schreiben wollte, deren (In-) Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den Fingern abzählete, wie man die Uhr(schläge) zählt, nimmer mit der Rechnung fertig werden würde: also, wenn man im Reden und auch selbst in Gedanken kein Wort sprechen (passiren lassen) wollte, ohne sich ein eigentliches Bildniss von dessen Bedeutung zu machen, würde man überaus langsam sprechen, oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauf der Gedanken nothwendig hemmen, also im Reden und Denken nicht weit kommen. Daher braucht man oft die Worte als Ziffern oder als Rechenpfennige, anstatt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise zum Facit schreitet und beim Vernunftschluss (? Endergebniss der Über- legung) zur Sache selbst gelanget. Woraus erscheinet, wie ein Grosses daran gelegen, dass die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel- zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häufig, leichtfliessend und angenehm seien.“ „Wenn der Geometer“, sagt Leibniz in demselben Sinne in einer andern Schrift (Fundamenta calculi ratiocinatoris, Editio Erdmann, p. 92), „sooft er im Beweisen eine Hyperbel oder eine Spirale nennt, immer ge- nötigt wäre, ihre Erklärungen oder Entstehungsweisen oder wieder die Erklärungen der diese bildenden Begriffe sich genau vor Augen zu stellen, so würde er sehr langsam zu neuen Entdekungen gelangen; wenn der Arith- metiker beim Rechnen die Werte aller Ziffern und die Menge der Ein- heiten nacheinander dächte, so würde er nie weitläufige Rechnungen zu Ende bringen, und es wäre nicht anders, als wenn er statt der Ziffern soviele Steinchen anwenden wollte; und der Rechtsgelehrte kann nicht immer, sooft er die Aktionen, die Exzeptionen oder die Rechtswohlthaten erwähnt, die wesentlichen Erfordernisse dieser Dinge, welche oft weitläufig sind, im Geiste durchlaufen, und hat es auch nicht nötig.“ Wie man sieht, berührt hier Leibniz schon den bedeutsamen Unterschied, welcher zwischen unmittelbaren (oder „intuitiven“) und mittelbaren (symbolischen) Vorstellungen besteht. Man kann z. B. die fünfhundert Billionen Schwingungen, welche in einem gelben Lichtstrahl an irgend einer Stelle in der Sekunde vor sich gehen, sich nicht im eigentlichen Sinn des Wortes „vorstellen“, weil das ganze Leben des Menschen auch beim Alter des Methusalem nicht aus- reicht, um auch nur einer einzigen Billion sich mit Gedankenschnelle folgender Vorstellungen, Empfindungen oder Wahrnehmungen als getrennter Dinge inne zu werden — ganz abgesehen von der ihrer Kleinheit wegen auch nicht mehr vorstellbaren Einzelschwingung oder Bewegung eines Teilchens in seiner zum Strahl senkrechten elliptischen oder kreisförmigen Bahn (so wenigstens für den Standpunkt der Fresnel'schen Undulationstheorie, welcher neuerdings aber eine elektrodynamische Theorie des Lichts — von Maxwell, nach den erstaunlichen Entdeckungen von Hertz wol siegreich —

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/61>, abgerufen am 06.12.2024.