Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung.

e1) Fassen wir (mit Mill) die Ergebnisse unsrer Betrachtungen
zusammen, so kommen wir zu dem Schlusse, in welchem die besten
Denker jetzt übereinstimmen:

Wie wir von der Welt überhaupt nichts inne werden, als die
Reihenfolge der Zustände unsres Bewusstseins, als da sind: Em-
pfindungen (Sensationen), Gemütsbewegungen (Emotionen) und Willens-
regungen (Wollen), schliesslich Gedanken*)-"Zustände", natürlich, die
durch den Wechsel in ihrer Succession auch "Vorgänge" zusammen-
setzen, wofern sie nicht schon selbst als solche aufzufassen -- so
machen die Empfindungen und die Ordnung ihres Eintretens auch alles
aus, was wir von der materiellen Aussenwelt erfahren, und absolut
sicher wissen können, und während die "Substanz" materieller Körper
die unbekannte Ursache unsrer Empfindungen ist, erscheint die "Sub-
stanz" Geist als der ("an sich" ebenfalls unbekannte**) Empfänger oder
Rezipient derselben.

Von den erwähnten Dingen sind es vorzugsweise die Gedanken,
welche uns noch weiter zu beschäftigen haben werden.

Dass nun die Dinge der Aussenwelt nicht "an sich" erkennbar
sind, ist für uns in jeder praktischen Hinsicht glücklicherweise ganz
ohne Belang. "Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht
und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding
anders als in der Erscheinung vorkommen kann" (Kant, Kritik der
reinen Vernunft. Ausgabe 1791, p. 332).

Die Art, wie diese Welt uns notwendig erscheint, wie die Dinge
auf uns einwirken, beziehungsweise zurückwirken, das ist und bleibt
für uns die Hauptsache. Es kommt dem Landmann darauf an, dass
der von ihm bebaute Acker Früchte trägt, welche sich uns wohl-

*) Mill2 will diese (vier) Arten von Bewusstseinszuständen mit einem Wort
als "Gefühle" (im weitern Sinne) bezeichnet wissen und macht darauf aufmerk-
sam, dass, was man "Wahrnehmung" nennt, nichts ist, als ein (an die Empfindung
des Sinneseindruckes geknüpfter) Glaube, also eine Art Gedanke, und dass "Hand-
lungen" nichts sind, als Willensthätigkeiten, auf welche eine Wirkung folgt (p. 90
der Schiel'schen Übersetzung). Ich frage noch: wohin gehört die freie Vor-
stellung?
**) So nach Mill. Ich will es unerörtert lassen, ob und in welchem Sinne
diese Qualifikation zutrifft. Ferner will ich hier nicht eintreten in die subtile
Frage, unter welchem Gesichtspunkt etwa gerade Materie und Geist die überein-
stimmende Bezeichnung als "Substanz" verdienen möchten. Die Physik hat der
Materie bis jetzt erst eine Art von Substanz gegenübergestellt, als welche die
Arbeitsvorräte der Natur, die freie und die gebundene ("kinetische" und "poten-
zielle") Energie zu bezeichnen.
Einleitung.

η1) Fassen wir (mit Mill) die Ergebnisse unsrer Betrachtungen
zusammen, so kommen wir zu dem Schlusse, in welchem die besten
Denker jetzt übereinstimmen:

Wie wir von der Welt überhaupt nichts inne werden, als die
Reihenfolge der Zustände unsres Bewusstseins, als da sind: Em-
pfindungen (Sensationen), Gemütsbewegungen (Emotionen) und Willens-
regungen (Wollen), schliesslich Gedanken*)-„Zustände“, natürlich, die
durch den Wechsel in ihrer Succession auch „Vorgänge“ zusammen-
setzen, wofern sie nicht schon selbst als solche aufzufassen — so
machen die Empfindungen und die Ordnung ihres Eintretens auch alles
aus, was wir von der materiellen Aussenwelt erfahren, und absolut
sicher wissen können, und während die „Substanz“ materieller Körper
die unbekannte Ursache unsrer Empfindungen ist, erscheint die „Sub-
stanz“ Geist als der („an sich“ ebenfalls unbekannte**) Empfänger oder
Rezipient derselben.

Von den erwähnten Dingen sind es vorzugsweise die Gedanken,
welche uns noch weiter zu beschäftigen haben werden.

Dass nun die Dinge der Aussenwelt nicht „an sich“ erkennbar
sind, ist für uns in jeder praktischen Hinsicht glücklicherweise ganz
ohne Belang. „Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht
und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding
anders als in der Erscheinung vorkommen kann“ (Kant, Kritik der
reinen Vernunft. Ausgabe 1791, p. 332).

Die Art, wie diese Welt uns notwendig erscheint, wie die Dinge
auf uns einwirken, beziehungsweise zurückwirken, das ist und bleibt
für uns die Hauptsache. Es kommt dem Landmann darauf an, dass
der von ihm bebaute Acker Früchte trägt, welche sich uns wohl-

*) Mill2 will diese (vier) Arten von Bewusstseinszuständen mit einem Wort
als „Gefühle“ (im weitern Sinne) bezeichnet wissen und macht darauf aufmerk-
sam, dass, was man „Wahrnehmung“ nennt, nichts ist, als ein (an die Empfindung
des Sinneseindruckes geknüpfter) Glaube, also eine Art Gedanke, und dass „Hand-
lungen“ nichts sind, als Willensthätigkeiten, auf welche eine Wirkung folgt (p. 90
der Schiel'schen Übersetzung). Ich frage noch: wohin gehört die freie Vor-
stellung?
**) So nach Mill. Ich will es unerörtert lassen, ob und in welchem Sinne
diese Qualifikation zutrifft. Ferner will ich hier nicht eintreten in die subtile
Frage, unter welchem Gesichtspunkt etwa gerade Materie und Geist die überein-
stimmende Bezeichnung als „Substanz“ verdienen möchten. Die Physik hat der
Materie bis jetzt erst eine Art von Substanz gegenübergestellt, als welche die
Arbeitsvorräte der Natur, die freie und die gebundene („kinetische“ und „poten-
zielle“) Energie zu bezeichnen.
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0056" n="36"/>
          <fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
          <p><hi rendition="#i">&#x03B7;</hi><hi rendition="#sub">1</hi>) Fassen wir (mit <hi rendition="#g">Mill</hi>) die Ergebnisse unsrer Betrachtungen<lb/>
zusammen, so kommen wir zu dem Schlusse, in welchem die besten<lb/>
Denker jetzt übereinstimmen:</p><lb/>
          <p>Wie wir von der Welt überhaupt nichts inne werden, als die<lb/>
Reihenfolge der Zustände unsres Bewusstseins, als da sind: Em-<lb/>
pfindungen (Sensationen), Gemütsbewegungen (Emotionen) und Willens-<lb/>
regungen (Wollen), schliesslich Gedanken<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Mill</hi><hi rendition="#sup">2</hi> will diese (vier) Arten von Bewusstseinszuständen mit <hi rendition="#i">einem</hi> Wort<lb/>
als <hi rendition="#i">&#x201E;Gefühle&#x201C;</hi> (im weitern Sinne) bezeichnet wissen und macht darauf aufmerk-<lb/>
sam, dass, was man &#x201E;Wahrnehmung&#x201C; nennt, nichts ist, als ein (an die Empfindung<lb/>
des Sinneseindruckes geknüpfter) Glaube, also eine Art Gedanke, und dass &#x201E;Hand-<lb/>
lungen&#x201C; nichts sind, als Willensthätigkeiten, auf welche eine Wirkung folgt (p. 90<lb/>
der <hi rendition="#g">Schiel</hi>'schen Übersetzung). Ich frage noch: wohin gehört die freie Vor-<lb/>
stellung?</note>-&#x201E;Zustände&#x201C;, natürlich, die<lb/>
durch den Wechsel in ihrer Succession auch &#x201E;Vorgänge&#x201C; zusammen-<lb/>
setzen, wofern sie nicht schon selbst als solche aufzufassen &#x2014; so<lb/>
machen die Empfindungen und die Ordnung ihres Eintretens auch alles<lb/>
aus, was wir von der materiellen Aussenwelt erfahren, und absolut<lb/>
sicher wissen können, und während die &#x201E;Substanz&#x201C; materieller <hi rendition="#i">Körper</hi><lb/>
die unbekannte Ursache unsrer Empfindungen ist, erscheint die &#x201E;Sub-<lb/>
stanz&#x201C; <hi rendition="#i">Geist</hi> als der (&#x201E;an sich&#x201C; ebenfalls unbekannte<note place="foot" n="**)">So nach <hi rendition="#g">Mill</hi>. Ich will es unerörtert lassen, ob und in welchem Sinne<lb/>
diese Qualifikation zutrifft. Ferner will ich hier nicht eintreten in die subtile<lb/>
Frage, unter welchem Gesichtspunkt etwa gerade <hi rendition="#i">Materie</hi> und <hi rendition="#i">Geist</hi> die überein-<lb/>
stimmende Bezeichnung als &#x201E;Substanz&#x201C; verdienen möchten. Die Physik hat der<lb/><hi rendition="#i">Materie</hi> bis jetzt erst <hi rendition="#i">eine</hi> Art von Substanz gegenübergestellt, als welche die<lb/>
Arbeitsvorräte der Natur, die freie und die gebundene (&#x201E;kinetische&#x201C; und &#x201E;poten-<lb/>
zielle&#x201C;) <hi rendition="#i">Energie</hi> zu bezeichnen.</note> Empfänger oder<lb/>
Rezipient derselben.</p><lb/>
          <p>Von den erwähnten Dingen sind es vorzugsweise die Gedanken,<lb/>
welche uns noch weiter zu beschäftigen haben werden.</p><lb/>
          <p>Dass nun die Dinge der Aussenwelt nicht &#x201E;an sich&#x201C; erkennbar<lb/>
sind, ist für uns in jeder praktischen Hinsicht glücklicherweise ganz<lb/>
ohne Belang. &#x201E;Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht<lb/>
und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding<lb/>
anders als in der Erscheinung vorkommen kann&#x201C; (<hi rendition="#g">Kant</hi>, Kritik der<lb/>
reinen Vernunft. Ausgabe 1791, p. 332).</p><lb/>
          <p>Die Art, wie diese Welt uns notwendig erscheint, wie die Dinge<lb/>
auf uns einwirken, beziehungsweise zurückwirken, das ist und bleibt<lb/>
für uns die Hauptsache. Es kommt dem Landmann darauf an, dass<lb/>
der von ihm bebaute Acker Früchte trägt, welche sich uns wohl-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[36/0056] Einleitung. η1) Fassen wir (mit Mill) die Ergebnisse unsrer Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Schlusse, in welchem die besten Denker jetzt übereinstimmen: Wie wir von der Welt überhaupt nichts inne werden, als die Reihenfolge der Zustände unsres Bewusstseins, als da sind: Em- pfindungen (Sensationen), Gemütsbewegungen (Emotionen) und Willens- regungen (Wollen), schliesslich Gedanken *)-„Zustände“, natürlich, die durch den Wechsel in ihrer Succession auch „Vorgänge“ zusammen- setzen, wofern sie nicht schon selbst als solche aufzufassen — so machen die Empfindungen und die Ordnung ihres Eintretens auch alles aus, was wir von der materiellen Aussenwelt erfahren, und absolut sicher wissen können, und während die „Substanz“ materieller Körper die unbekannte Ursache unsrer Empfindungen ist, erscheint die „Sub- stanz“ Geist als der („an sich“ ebenfalls unbekannte **) Empfänger oder Rezipient derselben. Von den erwähnten Dingen sind es vorzugsweise die Gedanken, welche uns noch weiter zu beschäftigen haben werden. Dass nun die Dinge der Aussenwelt nicht „an sich“ erkennbar sind, ist für uns in jeder praktischen Hinsicht glücklicherweise ganz ohne Belang. „Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft. Ausgabe 1791, p. 332). Die Art, wie diese Welt uns notwendig erscheint, wie die Dinge auf uns einwirken, beziehungsweise zurückwirken, das ist und bleibt für uns die Hauptsache. Es kommt dem Landmann darauf an, dass der von ihm bebaute Acker Früchte trägt, welche sich uns wohl- *) Mill2 will diese (vier) Arten von Bewusstseinszuständen mit einem Wort als „Gefühle“ (im weitern Sinne) bezeichnet wissen und macht darauf aufmerk- sam, dass, was man „Wahrnehmung“ nennt, nichts ist, als ein (an die Empfindung des Sinneseindruckes geknüpfter) Glaube, also eine Art Gedanke, und dass „Hand- lungen“ nichts sind, als Willensthätigkeiten, auf welche eine Wirkung folgt (p. 90 der Schiel'schen Übersetzung). Ich frage noch: wohin gehört die freie Vor- stellung? **) So nach Mill. Ich will es unerörtert lassen, ob und in welchem Sinne diese Qualifikation zutrifft. Ferner will ich hier nicht eintreten in die subtile Frage, unter welchem Gesichtspunkt etwa gerade Materie und Geist die überein- stimmende Bezeichnung als „Substanz“ verdienen möchten. Die Physik hat der Materie bis jetzt erst eine Art von Substanz gegenübergestellt, als welche die Arbeitsvorräte der Natur, die freie und die gebundene („kinetische“ und „poten- zielle“) Energie zu bezeichnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/56
Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/56>, abgerufen am 23.11.2024.