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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
Gründe darzulegen --, dass nicht nur jene neueren Untersuchungen der
Mathematiker über mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten logisch und er-
kenntnisstheoretisch vollberechtigte sind, sondern dass auch wirklich unsre
raumerfüllende Welt eine durchaus "endliche" ist -- natürlich "unbegrenzt"
-- jedoch nach jeder Richtung unsres Raumes in sich selbst zurückkehrend,
wobei sich die successiven Phasen der jeweils augenblicklichen dreidimensio-
nalen Gegenwart zu einem vierdimensionalen Gebilde der Wirklichkeit
schichtweise übereinanderlegen. Zu dieser Anschauung bin ich -- nebenbei
gesagt schon vor der durch Zöllner eröffneten Aera der Kontroversen --
angeregt durch die Lektüre des betreffenden von "Dr. Mises" (Theodor
Fechner
's) "Vier Paradoxa" -- gelangt. Wer Recht hat, das wird -- qui
vivera, verra -- eine fernliegende Zukunft entscheiden. Jedenfalls kann
es nicht als Argument gegen die Richtigkeit einer Ansicht aufgeführt
werden, wenn Verfechter derselben zu weit gegangen sind, wenn Einzelne
zugunsten derselben auch vielleicht sich kompromittirt haben sollten, und
für welche Ansicht man auch immer Partei nehmen möge, wird man doch
Bernhard Riemann's (auf der Schluss-Seite seiner Arbeit "Über die Hypo-
thesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen" ausgesprochenes) Endziel
gelten lassen -- in welchem wir auch die Rechtfertigung aller meta-
physischen Untersuchungen hauptsächlichst erblicken: dass die Forschung
nicht "durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt
im Erkennen des Zusammenhangs der Dinge nicht durch überlieferte Vor-
urteile gehemmt wird".

Wenn bei dem vorstehenden Exkurse das Wort "wirklich" wiederholt
gefallen ist, so war dasselbe bereits unter dem metaphysischen Vorbehalt,
also nicht als gleichbedeutend mit "an sich", zu nehmen. "Wirklich" nennen
wir (zu einer Zeit), was ist, im Gegensatz zu dem was nicht ist, und es
bedarf letzteres keiner weiteren Erläuterung für diejenigen Dinge, deren
wir unmittelbar inne werden. Erläuterungsbedürftig dagegen bleibt das
Wort für die Dinge der Aussenwelt, die wir ja nicht selbst mit unserm
Geiste erfassen, sondern von denen nur die Vorstellung, und eventuell der
Sinneseindruck, in unser Bewusstsein eintritt. Indem wir solch' einem ge-
dachten oder vorgestellten Dinge "Wirklichkeit" zuschreiben, bringen wir
es zum Ausdruck, dass wir eine objektive Notwendigkeit erkennen, die wir
nämlich direkt als über unserm Willen stehend unfrei empfinden -- die
wir denn als eine objektiv begründete auch für gemeinverbindlich halten --
kraft der Natur unsres Vorstellungsvermögens das Ding gerade so und
nicht anders zu denken. Das "Ding an sich" nennen wir die (unbekannte)
Ursache, die wir solchem Zwange unterzulegen nicht umhin können.

Mit dieser Erklärung wird solchen Dingen, die wir überhaupt nie ge-
dacht haben, die Wirklichkeit nicht abgesprochen.

z1) Durch das Fehlen oder die Bezugnahme auf jenes objektiv not-
wendige Entsprechen zwischen Ding an sich und Vorstellung werden
einige Unterscheidungen bedingt und begreiflich, die sonst unverständ-
lich erscheinen müssten.

Es wird verständlich, wieso die Vorstellung von der Vorstellung

Einleitung.
Gründe darzulegen —, dass nicht nur jene neueren Untersuchungen der
Mathematiker über mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten logisch und er-
kenntnisstheoretisch vollberechtigte sind, sondern dass auch wirklich unsre
raumerfüllende Welt eine durchaus „endliche“ ist — natürlich „unbegrenzt“
— jedoch nach jeder Richtung unsres Raumes in sich selbst zurückkehrend,
wobei sich die successiven Phasen der jeweils augenblicklichen dreidimensio-
nalen Gegenwart zu einem vierdimensionalen Gebilde der Wirklichkeit
schichtweise übereinanderlegen. Zu dieser Anschauung bin ich — nebenbei
gesagt schon vor der durch Zöllner eröffneten Aera der Kontroversen —
angeregt durch die Lektüre des betreffenden von „Dr. Mises“ (Theodor
Fechner
's) „Vier Paradoxa“ — gelangt. Wer Recht hat, das wird — qui
vivera, verra — eine fernliegende Zukunft entscheiden. Jedenfalls kann
es nicht als Argument gegen die Richtigkeit einer Ansicht aufgeführt
werden, wenn Verfechter derselben zu weit gegangen sind, wenn Einzelne
zugunsten derselben auch vielleicht sich kompromittirt haben sollten, und
für welche Ansicht man auch immer Partei nehmen möge, wird man doch
Bernhard Riemann's (auf der Schluss-Seite seiner Arbeit „Über die Hypo-
thesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ ausgesprochenes) Endziel
gelten lassen — in welchem wir auch die Rechtfertigung aller meta-
physischen Untersuchungen hauptsächlichst erblicken: dass die Forschung
nicht „durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt
im Erkennen des Zusammenhangs der Dinge nicht durch überlieferte Vor-
urteile gehemmt wird“.

Wenn bei dem vorstehenden Exkurse das Wort „wirklich“ wiederholt
gefallen ist, so war dasselbe bereits unter dem metaphysischen Vorbehalt,
also nicht als gleichbedeutend mit „an sich“, zu nehmen. „Wirklich“ nennen
wir (zu einer Zeit), was ist, im Gegensatz zu dem was nicht ist, und es
bedarf letzteres keiner weiteren Erläuterung für diejenigen Dinge, deren
wir unmittelbar inne werden. Erläuterungsbedürftig dagegen bleibt das
Wort für die Dinge der Aussenwelt, die wir ja nicht selbst mit unserm
Geiste erfassen, sondern von denen nur die Vorstellung, und eventuell der
Sinneseindruck, in unser Bewusstsein eintritt. Indem wir solch' einem ge-
dachten oder vorgestellten Dinge „Wirklichkeit“ zuschreiben, bringen wir
es zum Ausdruck, dass wir eine objektive Notwendigkeit erkennen, die wir
nämlich direkt als über unserm Willen stehend unfrei empfinden — die
wir denn als eine objektiv begründete auch für gemeinverbindlich halten —
kraft der Natur unsres Vorstellungsvermögens das Ding gerade so und
nicht anders zu denken. Das „Ding an sich“ nennen wir die (unbekannte)
Ursache, die wir solchem Zwange unterzulegen nicht umhin können.

Mit dieser Erklärung wird solchen Dingen, die wir überhaupt nie ge-
dacht haben, die Wirklichkeit nicht abgesprochen.

ζ1) Durch das Fehlen oder die Bezugnahme auf jenes objektiv not-
wendige Entsprechen zwischen Ding an sich und Vorstellung werden
einige Unterscheidungen bedingt und begreiflich, die sonst unverständ-
lich erscheinen müssten.

Es wird verständlich, wieso die Vorstellung von der Vorstellung

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[34/0054] Einleitung. Gründe darzulegen —, dass nicht nur jene neueren Untersuchungen der Mathematiker über mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten logisch und er- kenntnisstheoretisch vollberechtigte sind, sondern dass auch wirklich unsre raumerfüllende Welt eine durchaus „endliche“ ist — natürlich „unbegrenzt“ — jedoch nach jeder Richtung unsres Raumes in sich selbst zurückkehrend, wobei sich die successiven Phasen der jeweils augenblicklichen dreidimensio- nalen Gegenwart zu einem vierdimensionalen Gebilde der Wirklichkeit schichtweise übereinanderlegen. Zu dieser Anschauung bin ich — nebenbei gesagt schon vor der durch Zöllner eröffneten Aera der Kontroversen — angeregt durch die Lektüre des betreffenden von „Dr. Mises“ (Theodor Fechner's) „Vier Paradoxa“ — gelangt. Wer Recht hat, das wird — qui vivera, verra — eine fernliegende Zukunft entscheiden. Jedenfalls kann es nicht als Argument gegen die Richtigkeit einer Ansicht aufgeführt werden, wenn Verfechter derselben zu weit gegangen sind, wenn Einzelne zugunsten derselben auch vielleicht sich kompromittirt haben sollten, und für welche Ansicht man auch immer Partei nehmen möge, wird man doch Bernhard Riemann's (auf der Schluss-Seite seiner Arbeit „Über die Hypo- thesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ ausgesprochenes) Endziel gelten lassen — in welchem wir auch die Rechtfertigung aller meta- physischen Untersuchungen hauptsächlichst erblicken: dass die Forschung nicht „durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt im Erkennen des Zusammenhangs der Dinge nicht durch überlieferte Vor- urteile gehemmt wird“. Wenn bei dem vorstehenden Exkurse das Wort „wirklich“ wiederholt gefallen ist, so war dasselbe bereits unter dem metaphysischen Vorbehalt, also nicht als gleichbedeutend mit „an sich“, zu nehmen. „Wirklich“ nennen wir (zu einer Zeit), was ist, im Gegensatz zu dem was nicht ist, und es bedarf letzteres keiner weiteren Erläuterung für diejenigen Dinge, deren wir unmittelbar inne werden. Erläuterungsbedürftig dagegen bleibt das Wort für die Dinge der Aussenwelt, die wir ja nicht selbst mit unserm Geiste erfassen, sondern von denen nur die Vorstellung, und eventuell der Sinneseindruck, in unser Bewusstsein eintritt. Indem wir solch' einem ge- dachten oder vorgestellten Dinge „Wirklichkeit“ zuschreiben, bringen wir es zum Ausdruck, dass wir eine objektive Notwendigkeit erkennen, die wir nämlich direkt als über unserm Willen stehend unfrei empfinden — die wir denn als eine objektiv begründete auch für gemeinverbindlich halten — kraft der Natur unsres Vorstellungsvermögens das Ding gerade so und nicht anders zu denken. Das „Ding an sich“ nennen wir die (unbekannte) Ursache, die wir solchem Zwange unterzulegen nicht umhin können. Mit dieser Erklärung wird solchen Dingen, die wir überhaupt nie ge- dacht haben, die Wirklichkeit nicht abgesprochen. ζ1) Durch das Fehlen oder die Bezugnahme auf jenes objektiv not- wendige Entsprechen zwischen Ding an sich und Vorstellung werden einige Unterscheidungen bedingt und begreiflich, die sonst unverständ- lich erscheinen müssten. Es wird verständlich, wieso die Vorstellung von der Vorstellung

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/54>, abgerufen am 22.11.2024.