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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
die Überzeugung von ihrer Wahrheit in sich selbst tragen, zu deren
Anerkennung wir gezwungen sind kraft des Sinnes, den wir den Worten
beilegen.

Mit Lotze1 (p. 573) zu reden, wäre schon die Thatsache der Selbst-
verständlichkeit bei solchen Urteilen, bei den "apriorischen Wahrheiten"
merkwürdig.

Soweit dieselben auf die Zahl Bezug haben, werden hier diese Urteile
grösstenteils den arithmetischen Spezialwissenschaften überlassen.

Im übrigen werden diese, zwar eine unentbehrliche Grundlage alles
Denkens bildenden, aber ebendeswegen als überflüssiger Ausdruck des Selbst-
verständlichen gewöhnlich mit Übermut übergangenen Urteile in diesem
Buche eine besonders eingehende Beachtung finden. Unsre Betrachtungen
würden uns sogar in den Stand setzen, diese Urteile innerhalb irgend welcher
Grenzen, die durch eine nicht zu überschreitende Komplikation ihres Aus-
drucks gegeben werden mögen, gewünschtenfalls mit Leichtigkeit auch voll-
ständig
aufzuzählen.

Zweitens bleibt das denknotwendige Fortschreiten von schon vor-
handenen Überzeugungen
*), sei es wirklichen, sei es blos vermeintlichen
Erkenntnissen, zu neuen Überzeugungen (wirklichen resp. fraglichen
Erkenntnissen), das ist eben die eigentliche Deduktion. Und deren
Gesetze zu erforschen, wird unsre Hauptaufgabe bilden.

Nach dem Gesagten dürfen, wenn jenes Fortschreiten ein rein
deduktives sein soll, in dessen Verlauf keine neuen Wahrnehmungen
an den Dingen selbst, um deren Erkenntniss es sich handelt, hinzu-
gezogen, es darf nicht an Erfahrungsthatsachen dabei appellirt werden,
die nicht unter den "schon vorhandenen", den zum Ausgangspunkt der
Deduktion genommenen Erkenntnissen oder Überzeugungen bereits ein-
registrirt wären. Diese heissen die "Prämissen" und die aus ihnen
abgeleiteten Überzeugungen oder Erkenntnisse heissen die "Konklu-
sionen
" der Deduktion; der Übergang von den erstern zu den letztern
wird (deduktives) Schliessen, Folgern genannt.

Gleichwol verzichtet die Deduktion nicht ganz auf das mächtige
Hülfsmittel der Wahrnehmung. Zugelassen nämlich sind Beobach-
tungen an den Namen oder Zeichen der Dinge. Gerade in ihren höch-
sten Formen, wenn die Deduktion die verwickeltsten ihrer Aufgaben
rechnerisch bewältigt, zeigt sich solches Beobachten der Zeichen als
ein wesentliches und charakteristisches Merkmal derselben. Ein Blinder
wird bei gleicher Begabung, eben wegen seines mangelhaften Beob-
achtungsvermögens in der angedeuteten Richtung, dergleichen deduk-

*) Diese können auch provisorisch angenommene, können blosse "Annahmen"
(Hypothesen) sein.

Einleitung.
die Überzeugung von ihrer Wahrheit in sich selbst tragen, zu deren
Anerkennung wir gezwungen sind kraft des Sinnes, den wir den Worten
beilegen.

Mit Lotze1 (p. 573) zu reden, wäre schon die Thatsache der Selbst-
verständlichkeit bei solchen Urteilen, bei den „apriorischen Wahrheiten“
merkwürdig.

Soweit dieselben auf die Zahl Bezug haben, werden hier diese Urteile
grösstenteils den arithmetischen Spezialwissenschaften überlassen.

Im übrigen werden diese, zwar eine unentbehrliche Grundlage alles
Denkens bildenden, aber ebendeswegen als überflüssiger Ausdruck des Selbst-
verständlichen gewöhnlich mit Übermut übergangenen Urteile in diesem
Buche eine besonders eingehende Beachtung finden. Unsre Betrachtungen
würden uns sogar in den Stand setzen, diese Urteile innerhalb irgend welcher
Grenzen, die durch eine nicht zu überschreitende Komplikation ihres Aus-
drucks gegeben werden mögen, gewünschtenfalls mit Leichtigkeit auch voll-
ständig
aufzuzählen.

Zweitens bleibt das denknotwendige Fortschreiten von schon vor-
handenen Überzeugungen
*), sei es wirklichen, sei es blos vermeintlichen
Erkenntnissen, zu neuen Überzeugungen (wirklichen resp. fraglichen
Erkenntnissen), das ist eben die eigentliche Deduktion. Und deren
Gesetze zu erforschen, wird unsre Hauptaufgabe bilden.

Nach dem Gesagten dürfen, wenn jenes Fortschreiten ein rein
deduktives sein soll, in dessen Verlauf keine neuen Wahrnehmungen
an den Dingen selbst, um deren Erkenntniss es sich handelt, hinzu-
gezogen, es darf nicht an Erfahrungsthatsachen dabei appellirt werden,
die nicht unter den „schon vorhandenen“, den zum Ausgangspunkt der
Deduktion genommenen Erkenntnissen oder Überzeugungen bereits ein-
registrirt wären. Diese heissen die „Prämissen“ und die aus ihnen
abgeleiteten Überzeugungen oder Erkenntnisse heissen die „Konklu-
sionen
“ der Deduktion; der Übergang von den erstern zu den letztern
wird (deduktives) Schliessen, Folgern genannt.

Gleichwol verzichtet die Deduktion nicht ganz auf das mächtige
Hülfsmittel der Wahrnehmung. Zugelassen nämlich sind Beobach-
tungen an den Namen oder Zeichen der Dinge. Gerade in ihren höch-
sten Formen, wenn die Deduktion die verwickeltsten ihrer Aufgaben
rechnerisch bewältigt, zeigt sich solches Beobachten der Zeichen als
ein wesentliches und charakteristisches Merkmal derselben. Ein Blinder
wird bei gleicher Begabung, eben wegen seines mangelhaften Beob-
achtungsvermögens in der angedeuteten Richtung, dergleichen deduk-

*) Diese können auch provisorisch angenommene, können blosse „Annahmen“
(Hypothesen) sein.
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[10/0030] Einleitung. die Überzeugung von ihrer Wahrheit in sich selbst tragen, zu deren Anerkennung wir gezwungen sind kraft des Sinnes, den wir den Worten beilegen. Mit Lotze1 (p. 573) zu reden, wäre schon die Thatsache der Selbst- verständlichkeit bei solchen Urteilen, bei den „apriorischen Wahrheiten“ merkwürdig. Soweit dieselben auf die Zahl Bezug haben, werden hier diese Urteile grösstenteils den arithmetischen Spezialwissenschaften überlassen. Im übrigen werden diese, zwar eine unentbehrliche Grundlage alles Denkens bildenden, aber ebendeswegen als überflüssiger Ausdruck des Selbst- verständlichen gewöhnlich mit Übermut übergangenen Urteile in diesem Buche eine besonders eingehende Beachtung finden. Unsre Betrachtungen würden uns sogar in den Stand setzen, diese Urteile innerhalb irgend welcher Grenzen, die durch eine nicht zu überschreitende Komplikation ihres Aus- drucks gegeben werden mögen, gewünschtenfalls mit Leichtigkeit auch voll- ständig aufzuzählen. Zweitens bleibt das denknotwendige Fortschreiten von schon vor- handenen Überzeugungen *), sei es wirklichen, sei es blos vermeintlichen Erkenntnissen, zu neuen Überzeugungen (wirklichen resp. fraglichen Erkenntnissen), das ist eben die eigentliche Deduktion. Und deren Gesetze zu erforschen, wird unsre Hauptaufgabe bilden. Nach dem Gesagten dürfen, wenn jenes Fortschreiten ein rein deduktives sein soll, in dessen Verlauf keine neuen Wahrnehmungen an den Dingen selbst, um deren Erkenntniss es sich handelt, hinzu- gezogen, es darf nicht an Erfahrungsthatsachen dabei appellirt werden, die nicht unter den „schon vorhandenen“, den zum Ausgangspunkt der Deduktion genommenen Erkenntnissen oder Überzeugungen bereits ein- registrirt wären. Diese heissen die „Prämissen“ und die aus ihnen abgeleiteten Überzeugungen oder Erkenntnisse heissen die „Konklu- sionen“ der Deduktion; der Übergang von den erstern zu den letztern wird (deduktives) Schliessen, Folgern genannt. Gleichwol verzichtet die Deduktion nicht ganz auf das mächtige Hülfsmittel der Wahrnehmung. Zugelassen nämlich sind Beobach- tungen an den Namen oder Zeichen der Dinge. Gerade in ihren höch- sten Formen, wenn die Deduktion die verwickeltsten ihrer Aufgaben rechnerisch bewältigt, zeigt sich solches Beobachten der Zeichen als ein wesentliches und charakteristisches Merkmal derselben. Ein Blinder wird bei gleicher Begabung, eben wegen seines mangelhaften Beob- achtungsvermögens in der angedeuteten Richtung, dergleichen deduk- *) Diese können auch provisorisch angenommene, können blosse „Annahmen“ (Hypothesen) sein.

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/30>, abgerufen am 28.03.2024.