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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
lassen, würde ich das Wort "Überzeugung" vorziehen, wenn nicht dieses
seinerseits wieder eine zu enge Bedeutung hätte, indem es auf ein schon
ganz feststehendes, über jedes Zweifeln erhabenes Glauben hinzuweisen
pflegt. Das Wort "ein Glaube" soll hier nur irgend etwas, was jemand
eben glaubt, bezeichnen.

Bringen wir es uns zum Bewusstsein, dass wir eine spezielle
Gewöhnung (specified habit) dieser Art haben, so vollziehen wir ein
"Urteil" (judgment).

Unter Umständen möchte ich vorziehn zu sagen: ... dass wir sie er-
werben, sie begründen oder fortan haben werden. Indessen hat Herrn
Peirce's Ausdrucksweise hier den Vorzug, für alle Fälle wenigstens zuzu-
treffen, wenn sie dafür auch nicht alles erschöpfen dürfte, was im Urteil
liegen kann.

Zum Beispiel: schliessen wir uns dem Urteil an: "der Mars ist von
intelligenten Wesen bewohnt" (wie dies neuerdings sehr wahrscheinlich
geworden ist), so konstatiren wir (für uns und Diejenigen, die wir etwa
durch den Hinweis auf die schnurgeraden Kanäle von Sciaparelli's areo-
graphischer Karte ebendavon überzeugen oder überreden) -- eventuell be-
beginnen und festigen, gewinnen wir damit eine Gewohnheit, die Oberfläche
jenes (die Erde an Alter wol weit übertreffenden) Planeten belebt zu
denken mit Wesen, die auf die Umgestaltung dieser Oberfläche, ja auf
die Konfiguration des Festlandes dortselbst zweckbewusst und mit erfolg-
reicher Technik einwirkten. --

Es tritt, wie mir scheint, auf diesem, dem intellektuellen Gebiete die
merkwürdige Thatsache hervor, dass oft ein Augenblick schon genügt (ein
Augenblick, nämlich, des "Einleuchtens"), um die allerfestesten und uner-
schütterlichsten Gewohnheiten sich anzueignen, Gewohnheiten, die nicht
selten mit äusserster Zähigkeit für's ganze Leben festgehalten werden.

Die Kraft, mit welcher eine Überzeugung so als eine Denkgewohnheit
festgehalten wird, pflegt mehr oder minder vollkommen die reichliche Übung
zu ersetzen, die sonst -- auf dem Gebiet der äusseren körperlichen Thätig-
keiten wenigstens und auch bei vorwiegend mechanischem Auswendiglernen
-- unerlässlich scheint zur Erwerbung und Festigung einer Gewohnheit.
Die Intensität dieser Kraft erscheint mitbedingt durch den Grad der Evi-
denz; sie steigert sich nach Maassgabe, je deutlicher wir (einmal oder zu
immer wiederholten malen) das im Urteil Gedachte als ein durch objektive
Notwendigkeit zu denken Gebotenes zu erkennen glauben. Bei den un-
mittelbar einleuchtenden, "analytischen" oder selbstverständlichen Wahr-
heiten ist die Tyrannei dieser Gewohnheit eine so grosse, dass man von vorn-
herein gar nicht anders kann, als derselben huldigen. Der Begriff der
Gewohnheit erhält in solchem Falle einen volleren Inhalt als gewöhnlich,
den reichsten wol, der überhaupt ihm zukommen kann: sie artet in einen
Grenzfall aus und fällt geradezu zusammen mit einem absoluten Zwange
(der "Denknotwendigkeit").

Eine Denkgewohnheit kann natürlich auch verhältnissmässig unwichtig
und kurzlebig sein. Wer z. B. urteilt: "ich bin hungrig", manifestirt damit
eine Gewohnheit, sich, sooft er an seinen gegenwärtigen Zustand zurück-

Einleitung.
lassen, würde ich das Wort „Überzeugung“ vorziehen, wenn nicht dieses
seinerseits wieder eine zu enge Bedeutung hätte, indem es auf ein schon
ganz feststehendes, über jedes Zweifeln erhabenes Glauben hinzuweisen
pflegt. Das Wort „ein Glaube“ soll hier nur irgend etwas, was jemand
eben glaubt, bezeichnen.

Bringen wir es uns zum Bewusstsein, dass wir eine spezielle
Gewöhnung (specified habit) dieser Art haben, so vollziehen wir ein
Urteil“ (judgment).

Unter Umständen möchte ich vorziehn zu sagen: … dass wir sie er-
werben, sie begründen oder fortan haben werden. Indessen hat Herrn
Peirce's Ausdrucksweise hier den Vorzug, für alle Fälle wenigstens zuzu-
treffen, wenn sie dafür auch nicht alles erschöpfen dürfte, was im Urteil
liegen kann.

Zum Beispiel: schliessen wir uns dem Urteil an: „der Mars ist von
intelligenten Wesen bewohnt“ (wie dies neuerdings sehr wahrscheinlich
geworden ist), so konstatiren wir (für uns und Diejenigen, die wir etwa
durch den Hinweis auf die schnurgeraden Kanäle von Sciaparelli's areo-
graphischer Karte ebendavon überzeugen oder überreden) — eventuell be-
beginnen und festigen, gewinnen wir damit eine Gewohnheit, die Oberfläche
jenes (die Erde an Alter wol weit übertreffenden) Planeten belebt zu
denken mit Wesen, die auf die Umgestaltung dieser Oberfläche, ja auf
die Konfiguration des Festlandes dortselbst zweckbewusst und mit erfolg-
reicher Technik einwirkten. —

Es tritt, wie mir scheint, auf diesem, dem intellektuellen Gebiete die
merkwürdige Thatsache hervor, dass oft ein Augenblick schon genügt (ein
Augenblick, nämlich, des „Einleuchtens“), um die allerfestesten und uner-
schütterlichsten Gewohnheiten sich anzueignen, Gewohnheiten, die nicht
selten mit äusserster Zähigkeit für's ganze Leben festgehalten werden.

Die Kraft, mit welcher eine Überzeugung so als eine Denkgewohnheit
festgehalten wird, pflegt mehr oder minder vollkommen die reichliche Übung
zu ersetzen, die sonst — auf dem Gebiet der äusseren körperlichen Thätig-
keiten wenigstens und auch bei vorwiegend mechanischem Auswendiglernen
— unerlässlich scheint zur Erwerbung und Festigung einer Gewohnheit.
Die Intensität dieser Kraft erscheint mitbedingt durch den Grad der Evi-
denz; sie steigert sich nach Maassgabe, je deutlicher wir (einmal oder zu
immer wiederholten malen) das im Urteil Gedachte als ein durch objektive
Notwendigkeit zu denken Gebotenes zu erkennen glauben. Bei den un-
mittelbar einleuchtenden, „analytischen“ oder selbstverständlichen Wahr-
heiten ist die Tyrannei dieser Gewohnheit eine so grosse, dass man von vorn-
herein gar nicht anders kann, als derselben huldigen. Der Begriff der
Gewohnheit erhält in solchem Falle einen volleren Inhalt als gewöhnlich,
den reichsten wol, der überhaupt ihm zukommen kann: sie artet in einen
Grenzfall aus und fällt geradezu zusammen mit einem absoluten Zwange
(der „Denknotwendigkeit“).

Eine Denkgewohnheit kann natürlich auch verhältnissmässig unwichtig
und kurzlebig sein. Wer z. B. urteilt: „ich bin hungrig“, manifestirt damit
eine Gewohnheit, sich, sooft er an seinen gegenwärtigen Zustand zurück-

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[110/0130] Einleitung. lassen, würde ich das Wort „Überzeugung“ vorziehen, wenn nicht dieses seinerseits wieder eine zu enge Bedeutung hätte, indem es auf ein schon ganz feststehendes, über jedes Zweifeln erhabenes Glauben hinzuweisen pflegt. Das Wort „ein Glaube“ soll hier nur irgend etwas, was jemand eben glaubt, bezeichnen. Bringen wir es uns zum Bewusstsein, dass wir eine spezielle Gewöhnung (specified habit) dieser Art haben, so vollziehen wir ein „Urteil“ (judgment). Unter Umständen möchte ich vorziehn zu sagen: … dass wir sie er- werben, sie begründen oder fortan haben werden. Indessen hat Herrn Peirce's Ausdrucksweise hier den Vorzug, für alle Fälle wenigstens zuzu- treffen, wenn sie dafür auch nicht alles erschöpfen dürfte, was im Urteil liegen kann. Zum Beispiel: schliessen wir uns dem Urteil an: „der Mars ist von intelligenten Wesen bewohnt“ (wie dies neuerdings sehr wahrscheinlich geworden ist), so konstatiren wir (für uns und Diejenigen, die wir etwa durch den Hinweis auf die schnurgeraden Kanäle von Sciaparelli's areo- graphischer Karte ebendavon überzeugen oder überreden) — eventuell be- beginnen und festigen, gewinnen wir damit eine Gewohnheit, die Oberfläche jenes (die Erde an Alter wol weit übertreffenden) Planeten belebt zu denken mit Wesen, die auf die Umgestaltung dieser Oberfläche, ja auf die Konfiguration des Festlandes dortselbst zweckbewusst und mit erfolg- reicher Technik einwirkten. — Es tritt, wie mir scheint, auf diesem, dem intellektuellen Gebiete die merkwürdige Thatsache hervor, dass oft ein Augenblick schon genügt (ein Augenblick, nämlich, des „Einleuchtens“), um die allerfestesten und uner- schütterlichsten Gewohnheiten sich anzueignen, Gewohnheiten, die nicht selten mit äusserster Zähigkeit für's ganze Leben festgehalten werden. Die Kraft, mit welcher eine Überzeugung so als eine Denkgewohnheit festgehalten wird, pflegt mehr oder minder vollkommen die reichliche Übung zu ersetzen, die sonst — auf dem Gebiet der äusseren körperlichen Thätig- keiten wenigstens und auch bei vorwiegend mechanischem Auswendiglernen — unerlässlich scheint zur Erwerbung und Festigung einer Gewohnheit. Die Intensität dieser Kraft erscheint mitbedingt durch den Grad der Evi- denz; sie steigert sich nach Maassgabe, je deutlicher wir (einmal oder zu immer wiederholten malen) das im Urteil Gedachte als ein durch objektive Notwendigkeit zu denken Gebotenes zu erkennen glauben. Bei den un- mittelbar einleuchtenden, „analytischen“ oder selbstverständlichen Wahr- heiten ist die Tyrannei dieser Gewohnheit eine so grosse, dass man von vorn- herein gar nicht anders kann, als derselben huldigen. Der Begriff der Gewohnheit erhält in solchem Falle einen volleren Inhalt als gewöhnlich, den reichsten wol, der überhaupt ihm zukommen kann: sie artet in einen Grenzfall aus und fällt geradezu zusammen mit einem absoluten Zwange (der „Denknotwendigkeit“). Eine Denkgewohnheit kann natürlich auch verhältnissmässig unwichtig und kurzlebig sein. Wer z. B. urteilt: „ich bin hungrig“, manifestirt damit eine Gewohnheit, sich, sooft er an seinen gegenwärtigen Zustand zurück-

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/130>, abgerufen am 06.05.2024.