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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890.

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Einleitung.
Desjenigen, was darunter vorgestellt wird, wenn der Name einer Klasse
fällt, z. B. wenn von "einem Baume" gesprochen wird -- im Gegensatz zu
der Einzelvorstellung (repraesentatio singularis, wie "dieser Baum hier")
und im etwaigen Gegensatz zum Begriff "Baum". Die Identität solcher
Allgemeinvorstellung mit dem zugehörigen Begriffe wird teils behauptet,
teils bestritten.

Auf solchem unsichern und vielumstrittenen Fundamente nun das
Gebäude einer Wissenschaft errichten zu wollen, die, wie die Logik,
den Anspruch erhebt, nur absolut sichere, weil denknotwendige und
evidente Wahrheiten aufzustellen, scheint mir kein wissenschaftliches
Verfahren. Die Logik von vornherein als eine solche des Begriffsin-
haltes
zu errichten möchte eher wol dem Versuche gleichen, das Dach
vor dem Hause zu bauen.

Eine "Logik des Umfanges" in erster Linie anzustreben, darin bestärkt
mich auch die Überlegung: dass (gerade wenigstens von dem Standpunkte,
den manche Verfechter
einer solchen "des Inhaltes" einnehmen) viele Be-
griffe dem Inhalte nach überhaupt nicht existiren, die gleichwol eines (be-
grifflich!) scharfumgrenzten Umfanges sich erfreuen.

So die meisten ursprünglich durch Negation gewonnenen Begriffe, wie
etwa "Nichtmensch" -- indem es, wie Lotze witzig bemerkt, für den
menschlichen Geist eine ewig unlösbare Aufgabe bleibt, von allem, was
nicht ein Mensch ist, also "von Dreieek, Wehmut und Schwefelsäure" die
gemeinsamen Merkmale zu abstrahiren und zum Begriff des "Nicht-men-
schen" zusammenzufassen!

Dem Umfange nach existirt aber dieser Begriff doch unzweifelhaft
(wenn man auch mit Lotze gegen die Zweckmässigkeit und den wissen-
schaftlichen Wert seiner Aufstellung zu Felde ziehen mag), sintemal kein
individuelles Objekt des Denkens bekannt ist, über welches wir irgend im
Zweifel sein könnten, ob demselben das Prädikat, ein "Mensch" zu sein,
zu oder abzusprechen wäre -- vorausgesetzt nur, dass man sich über ge-
wisse Fragen des Doppelsinns, z. B. den Embryo, den Leichnam betreffend,
geeinigt, nämlich den Begriff "Mensch" selbst erst gehörig präzisirt hat.

Und die Lotze'sche Argumentation1 pag. 58 würde mutatis mutan-
dis ebensogut auf "einander nicht schneidende Kurven" anwendbar sein, wo
seine sonstigen Einwendungen wegfielen. Auch hier würde es wol unmöglich
sein, ein "positives" gemeinsames Merkmal zu abstrahiren. Ein "negatives"
aber, genauer: die Abwesenheit eines bestimmten (anerkannten) Merkmals,
will Lotze eben nicht als Merkmal gelten lassen. Vergl. hiezu § 16.

Von seinem Standpunkte aus, auf den ich mich soeben stellte, um
ihn mit seinen eigenen Gründen zu widerlegen, hätte also auch dieser letz-
tere Begriff keinen Inhalt und existirte doch unzweifelhaft seinem Umfange
nach, als Klasse; und als solcher wäre er auch (schlechthin oder in ander-
weitig noch enger begrenzter Auffassung) für die Geometrie ganz un-
entbehrlich.

Von einer Logik des Inhaltes müssten (darnach also) ganz un-
entbehrliche Begriffe ausgeschlossen bleiben und hätte solche keinen

7*

Einleitung.
Desjenigen, was darunter vorgestellt wird, wenn der Name einer Klasse
fällt, z. B. wenn von „einem Baume“ gesprochen wird — im Gegensatz zu
der Einzelvorstellung (repraesentatio singularis, wie „dieser Baum hier“)
und im etwaigen Gegensatz zum Begriff „Baum“. Die Identität solcher
Allgemeinvorstellung mit dem zugehörigen Begriffe wird teils behauptet,
teils bestritten.

Auf solchem unsichern und vielumstrittenen Fundamente nun das
Gebäude einer Wissenschaft errichten zu wollen, die, wie die Logik,
den Anspruch erhebt, nur absolut sichere, weil denknotwendige und
evidente Wahrheiten aufzustellen, scheint mir kein wissenschaftliches
Verfahren. Die Logik von vornherein als eine solche des Begriffsin-
haltes
zu errichten möchte eher wol dem Versuche gleichen, das Dach
vor dem Hause zu bauen.

Eine „Logik des Umfanges“ in erster Linie anzustreben, darin bestärkt
mich auch die Überlegung: dass (gerade wenigstens von dem Standpunkte,
den manche Verfechter
einer solchen „des Inhaltes“ einnehmen) viele Be-
griffe dem Inhalte nach überhaupt nicht existiren, die gleichwol eines (be-
grifflich!) scharfumgrenzten Umfanges sich erfreuen.

So die meisten ursprünglich durch Negation gewonnenen Begriffe, wie
etwa „Nichtmensch“ — indem es, wie Lotze witzig bemerkt, für den
menschlichen Geist eine ewig unlösbare Aufgabe bleibt, von allem, was
nicht ein Mensch ist, also „von Dreieek, Wehmut und Schwefelsäure“ die
gemeinsamen Merkmale zu abstrahiren und zum Begriff des „Nicht-men-
schen“ zusammenzufassen!

Dem Umfange nach existirt aber dieser Begriff doch unzweifelhaft
(wenn man auch mit Lotze gegen die Zweckmässigkeit und den wissen-
schaftlichen Wert seiner Aufstellung zu Felde ziehen mag), sintemal kein
individuelles Objekt des Denkens bekannt ist, über welches wir irgend im
Zweifel sein könnten, ob demselben das Prädikat, ein „Mensch“ zu sein,
zu oder abzusprechen wäre — vorausgesetzt nur, dass man sich über ge-
wisse Fragen des Doppelsinns, z. B. den Embryo, den Leichnam betreffend,
geeinigt, nämlich den Begriff „Mensch“ selbst erst gehörig präzisirt hat.

Und die Lotze'sche Argumentation1 pag. 58 würde mutatis mutan-
dis ebensogut auf „einander nicht schneidende Kurven“ anwendbar sein, wo
seine sonstigen Einwendungen wegfielen. Auch hier würde es wol unmöglich
sein, ein „positives“ gemeinsames Merkmal zu abstrahiren. Ein „negatives“
aber, genauer: die Abwesenheit eines bestimmten (anerkannten) Merkmals,
will Lotze eben nicht als Merkmal gelten lassen. Vergl. hiezu § 16.

Von seinem Standpunkte aus, auf den ich mich soeben stellte, um
ihn mit seinen eigenen Gründen zu widerlegen, hätte also auch dieser letz-
tere Begriff keinen Inhalt und existirte doch unzweifelhaft seinem Umfange
nach, als Klasse; und als solcher wäre er auch (schlechthin oder in ander-
weitig noch enger begrenzter Auffassung) für die Geometrie ganz un-
entbehrlich.

Von einer Logik des Inhaltes müssten (darnach also) ganz un-
entbehrliche Begriffe ausgeschlossen bleiben und hätte solche keinen

7*
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[99/0119] Einleitung. Desjenigen, was darunter vorgestellt wird, wenn der Name einer Klasse fällt, z. B. wenn von „einem Baume“ gesprochen wird — im Gegensatz zu der Einzelvorstellung (repraesentatio singularis, wie „dieser Baum hier“) und im etwaigen Gegensatz zum Begriff „Baum“. Die Identität solcher Allgemeinvorstellung mit dem zugehörigen Begriffe wird teils behauptet, teils bestritten. Auf solchem unsichern und vielumstrittenen Fundamente nun das Gebäude einer Wissenschaft errichten zu wollen, die, wie die Logik, den Anspruch erhebt, nur absolut sichere, weil denknotwendige und evidente Wahrheiten aufzustellen, scheint mir kein wissenschaftliches Verfahren. Die Logik von vornherein als eine solche des Begriffsin- haltes zu errichten möchte eher wol dem Versuche gleichen, das Dach vor dem Hause zu bauen. Eine „Logik des Umfanges“ in erster Linie anzustreben, darin bestärkt mich auch die Überlegung: dass (gerade wenigstens von dem Standpunkte, den manche Verfechter einer solchen „des Inhaltes“ einnehmen) viele Be- griffe dem Inhalte nach überhaupt nicht existiren, die gleichwol eines (be- grifflich!) scharfumgrenzten Umfanges sich erfreuen. So die meisten ursprünglich durch Negation gewonnenen Begriffe, wie etwa „Nichtmensch“ — indem es, wie Lotze witzig bemerkt, für den menschlichen Geist eine ewig unlösbare Aufgabe bleibt, von allem, was nicht ein Mensch ist, also „von Dreieek, Wehmut und Schwefelsäure“ die gemeinsamen Merkmale zu abstrahiren und zum Begriff des „Nicht-men- schen“ zusammenzufassen! Dem Umfange nach existirt aber dieser Begriff doch unzweifelhaft (wenn man auch mit Lotze gegen die Zweckmässigkeit und den wissen- schaftlichen Wert seiner Aufstellung zu Felde ziehen mag), sintemal kein individuelles Objekt des Denkens bekannt ist, über welches wir irgend im Zweifel sein könnten, ob demselben das Prädikat, ein „Mensch“ zu sein, zu oder abzusprechen wäre — vorausgesetzt nur, dass man sich über ge- wisse Fragen des Doppelsinns, z. B. den Embryo, den Leichnam betreffend, geeinigt, nämlich den Begriff „Mensch“ selbst erst gehörig präzisirt hat. Und die Lotze'sche Argumentation1 pag. 58 würde mutatis mutan- dis ebensogut auf „einander nicht schneidende Kurven“ anwendbar sein, wo seine sonstigen Einwendungen wegfielen. Auch hier würde es wol unmöglich sein, ein „positives“ gemeinsames Merkmal zu abstrahiren. Ein „negatives“ aber, genauer: die Abwesenheit eines bestimmten (anerkannten) Merkmals, will Lotze eben nicht als Merkmal gelten lassen. Vergl. hiezu § 16. Von seinem Standpunkte aus, auf den ich mich soeben stellte, um ihn mit seinen eigenen Gründen zu widerlegen, hätte also auch dieser letz- tere Begriff keinen Inhalt und existirte doch unzweifelhaft seinem Umfange nach, als Klasse; und als solcher wäre er auch (schlechthin oder in ander- weitig noch enger begrenzter Auffassung) für die Geometrie ganz un- entbehrlich. Von einer Logik des Inhaltes müssten (darnach also) ganz un- entbehrliche Begriffe ausgeschlossen bleiben und hätte solche keinen 7*

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/119>, abgerufen am 07.05.2024.