Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.
Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen- thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke- lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So- dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs- sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe- deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun- geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt- grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen- heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen- erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie- hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal- ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück- lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege- ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.
Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil- dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei- ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es wird nur da in seiner reinen -- freilich dann mehr oder we- niger rohen und mangelhaften -- Eigenthümlichkeit hervor-
Vorwort.
Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.
Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen- thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke- lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So- dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs- sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe- deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun- geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt- grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen- heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen- erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie- hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal- ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück- lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege- ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.
Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil- dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei- ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es wird nur da in seiner reinen — freilich dann mehr oder we- niger rohen und mangelhaften — Eigenthümlichkeit hervor-
<TEI><text><front><divtype="preface"n="1"><pbfacs="#f0009"n="[V]"/><head>Vorwort.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit<lb/>
steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.</p><lb/><p>Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen-<lb/>
thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke-<lb/>
lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So-<lb/>
dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs-<lb/>
sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe-<lb/>
deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun-<lb/>
geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen<lb/>
Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig<lb/>
heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt-<lb/>
grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen-<lb/>
heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen-<lb/>
erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie-<lb/>
hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in<lb/>
den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal-<lb/>
ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich<lb/>
verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück-<lb/>
lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege-<lb/>
ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.</p><lb/><p>Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil-<lb/>
dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja<lb/>
auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei-<lb/>
ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über<lb/>
den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es<lb/>
wird nur da in seiner reinen — freilich dann mehr oder we-<lb/>
niger rohen und mangelhaften — Eigenthümlichkeit hervor-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[[V]/0009]
Vorwort.
Unter den hochwichtigen Lebensfragen der Menschheit
steht die Erziehung der aufwachsenden Generationen oben an.
Jeder Mensch hat zwar eine gewisse angeborene Eigen-
thümlichkeit, die seiner körperlichen und geistigen Entwicke-
lung mehr oder weniger das individuelle Gepräge gibt. So-
dann ist auch den gelegentlichen und unberechneten Einflüs-
sen des Lebens auf den einzelnen Menschen eine nicht unbe-
deutende miterziehende Einwirkung zuzuerkennen. Dessenun-
geachtet aber ist die Erziehung im engeren und eigentlichen
Sinne, d. h. die gesammte den Menschen mögliche planmässig
heraufbildende Einwirkung auf das Kind, offenbar die Haupt-
grundlage der künftigen körperlichen und geistigen Beschaffen-
heit. Selbst sehr mangelhafte Naturmitgabe ist oft in staunen-
erregender Weise ausgleichbar durch wohlberechnete Erzie-
hung, wovon die augenfälligsten maassgebenden Beispiele in
den immer höher steigenden Resultaten der Erziehungsanstal-
ten für Taubstumme, Blinde, Blödsinnige, Cretinen, sittlich
verwahrloste Kinder u. s. w. zu erblicken sind. Die glück-
lichste Naturmitgabe ist aber der Verkümmerung preisgege-
ben, wenn die erziehende Entwickelung derselben fehlt.
Jenes, so zu sagen, naturwüchsige Gepräge der Ausbil-
dung wird zwar nie ganz verwischbar sein (es sollen ihm ja
auch seine edlen Eigenthümlichkeiten wohl erhalten und wei-
ter entwickelt werden), wird aber schwerlich jemals über
den Einfluss der Erziehung die Oberhand behaupten. Es
wird nur da in seiner reinen — freilich dann mehr oder we-
niger rohen und mangelhaften — Eigenthümlichkeit hervor-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/9>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.