Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

1. JAHR. GEISTIGE SEITE.
wie meistentheils, die Kinder dieses Alters fast nur den Hän-
den von Dienstleuten überlassen sind, welche, wenigstens für
solche Auffassungen, selten genügendes Verständniss haben.

Durch die zuletzt erwähnte Gewöhnung hat das Kind be-
reits einen merklichen Vorsprung erreicht in der Kunst zu
warten und ist vorbereitet auf eine andere für die Folge noch
wichtigere, auf die Kunst sich zu versagen. Nach dem
Bisherigen kann es fast als selbstverständlich betrachtet wer-
den, dass jedem unerlaubten Begehren -- sei dieses nun ein
dem Kinde selbst nachtheiliges oder nicht -- eine unbedingte
Verweigerung mit ausnahmsloser Consequenz entgegengesetzt
werden müsse. Das Verweigern allein ist aber noch nicht
Alles, sondern man muss zugleich darauf halten, dass das Kind
das Verweigern ruhig hinnehme und nöthigenfalls durch ein
ernstes Wort, eine Drohung u. dgl., dieses ruhige Hinnehmen
zu einer festen Gewohnheit machen. Nur keine Ausnahme
gemacht! -- und es geht auch dies leichter und schneller, als
man gemeinhin glaubt. Jede Ausnahme freilich vernichtet die
Regel und erschwert die Gewöhnung auf längere Zeit. -- Da-
gegen gewähre man jedes erlaubte Begehren des Kin-
des mit liebevoller Bereitwilligkeit
.

So nur erleichtert man dem Kinde die heilsame und un-
entbehrliche Gewöhnung an Unterordnung und Regelung seines
Willens, an Selbstunterscheidung des Erlaubten und des Nicht-
erlaubten, nicht aber durch zu ängstliches Entziehen aller ein
unerlaubtes Begehren anregenden Wahrnehmungen. Der Grund
zu der dazu nöthigen geistigen Kraft muss frühzeitig gelegt,
und ihre Erstarkung kann, wie die jeder anderen Kraft, nur
durch Uebung erreicht werden. Will man später erst damit
beginnen, so wird das Gelingen ungleich schwieriger, und das
darauf nicht eingeübte kindliche Gemüth dem Eindrucke der
Bitterkeit ausgesetzt.

Eine sehr gute, dieser Altersstufe ganz zeitgemässe Uebung
in der Kunst sich zu versagen, ist die, dass man dem Kinde
oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Um-
gebung essen und trinken sehen zu lernen, ohne dass
es selbst danach begehrt
. Ist es schon für das körper-

1. JAHR. GEISTIGE SEITE.
wie meistentheils, die Kinder dieses Alters fast nur den Hän-
den von Dienstleuten überlassen sind, welche, wenigstens für
solche Auffassungen, selten genügendes Verständniss haben.

Durch die zuletzt erwähnte Gewöhnung hat das Kind be-
reits einen merklichen Vorsprung erreicht in der Kunst zu
warten und ist vorbereitet auf eine andere für die Folge noch
wichtigere, auf die Kunst sich zu versagen. Nach dem
Bisherigen kann es fast als selbstverständlich betrachtet wer-
den, dass jedem unerlaubten Begehren — sei dieses nun ein
dem Kinde selbst nachtheiliges oder nicht — eine unbedingte
Verweigerung mit ausnahmsloser Consequenz entgegengesetzt
werden müsse. Das Verweigern allein ist aber noch nicht
Alles, sondern man muss zugleich darauf halten, dass das Kind
das Verweigern ruhig hinnehme und nöthigenfalls durch ein
ernstes Wort, eine Drohung u. dgl., dieses ruhige Hinnehmen
zu einer festen Gewohnheit machen. Nur keine Ausnahme
gemacht! — und es geht auch dies leichter und schneller, als
man gemeinhin glaubt. Jede Ausnahme freilich vernichtet die
Regel und erschwert die Gewöhnung auf längere Zeit. — Da-
gegen gewähre man jedes erlaubte Begehren des Kin-
des mit liebevoller Bereitwilligkeit
.

So nur erleichtert man dem Kinde die heilsame und un-
entbehrliche Gewöhnung an Unterordnung und Regelung seines
Willens, an Selbstunterscheidung des Erlaubten und des Nicht-
erlaubten, nicht aber durch zu ängstliches Entziehen aller ein
unerlaubtes Begehren anregenden Wahrnehmungen. Der Grund
zu der dazu nöthigen geistigen Kraft muss frühzeitig gelegt,
und ihre Erstarkung kann, wie die jeder anderen Kraft, nur
durch Uebung erreicht werden. Will man später erst damit
beginnen, so wird das Gelingen ungleich schwieriger, und das
darauf nicht eingeübte kindliche Gemüth dem Eindrucke der
Bitterkeit ausgesetzt.

Eine sehr gute, dieser Altersstufe ganz zeitgemässe Uebung
in der Kunst sich zu versagen, ist die, dass man dem Kinde
oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Um-
gebung essen und trinken sehen zu lernen, ohne dass
es selbst danach begehrt
. Ist es schon für das körper-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0067" n="63"/><fw place="top" type="header">1. JAHR. GEISTIGE SEITE.</fw><lb/>
wie meistentheils, die Kinder dieses Alters fast nur den Hän-<lb/>
den von Dienstleuten überlassen sind, welche, wenigstens für<lb/>
solche Auffassungen, selten genügendes Verständniss haben.</p><lb/>
          <p>Durch die zuletzt erwähnte Gewöhnung hat das Kind be-<lb/>
reits einen merklichen Vorsprung erreicht in der Kunst zu<lb/><hi rendition="#g">warten</hi> und ist vorbereitet auf eine andere für die Folge noch<lb/>
wichtigere, auf die Kunst <hi rendition="#g">sich zu versagen</hi>. Nach dem<lb/>
Bisherigen kann es fast als selbstverständlich betrachtet wer-<lb/>
den, dass jedem unerlaubten Begehren &#x2014; sei dieses nun ein<lb/>
dem Kinde selbst nachtheiliges oder nicht &#x2014; eine unbedingte<lb/>
Verweigerung mit ausnahmsloser Consequenz entgegengesetzt<lb/>
werden müsse. Das Verweigern allein ist aber noch nicht<lb/>
Alles, sondern man muss zugleich darauf halten, dass das Kind<lb/>
das Verweigern <hi rendition="#g">ruhig</hi> hinnehme und nöthigenfalls durch ein<lb/>
ernstes Wort, eine Drohung u. dgl., dieses ruhige Hinnehmen<lb/>
zu einer festen Gewohnheit machen. Nur keine Ausnahme<lb/>
gemacht! &#x2014; und es geht auch dies leichter und schneller, als<lb/>
man gemeinhin glaubt. Jede Ausnahme freilich vernichtet die<lb/>
Regel und erschwert die Gewöhnung auf längere Zeit. &#x2014; Da-<lb/>
gegen <hi rendition="#g">gewähre man jedes erlaubte Begehren des Kin-<lb/>
des mit liebevoller Bereitwilligkeit</hi>.</p><lb/>
          <p>So nur erleichtert man dem Kinde die heilsame und un-<lb/>
entbehrliche Gewöhnung an Unterordnung und Regelung seines<lb/>
Willens, an Selbstunterscheidung des Erlaubten und des Nicht-<lb/>
erlaubten, nicht aber durch zu ängstliches Entziehen aller ein<lb/>
unerlaubtes Begehren anregenden Wahrnehmungen. Der Grund<lb/>
zu der dazu nöthigen geistigen Kraft muss frühzeitig gelegt,<lb/>
und ihre Erstarkung kann, wie die jeder anderen Kraft, nur<lb/>
durch Uebung erreicht werden. Will man später erst damit<lb/>
beginnen, so wird das Gelingen ungleich schwieriger, und das<lb/>
darauf nicht eingeübte kindliche Gemüth dem Eindrucke der<lb/>
Bitterkeit ausgesetzt.</p><lb/>
          <p>Eine sehr gute, dieser Altersstufe ganz zeitgemässe Uebung<lb/>
in der Kunst sich zu versagen, ist die, dass man dem Kinde<lb/>
oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Um-<lb/>
gebung <hi rendition="#g">essen und trinken sehen zu lernen, ohne dass<lb/>
es selbst danach begehrt</hi>. Ist es schon für das körper-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0067] 1. JAHR. GEISTIGE SEITE. wie meistentheils, die Kinder dieses Alters fast nur den Hän- den von Dienstleuten überlassen sind, welche, wenigstens für solche Auffassungen, selten genügendes Verständniss haben. Durch die zuletzt erwähnte Gewöhnung hat das Kind be- reits einen merklichen Vorsprung erreicht in der Kunst zu warten und ist vorbereitet auf eine andere für die Folge noch wichtigere, auf die Kunst sich zu versagen. Nach dem Bisherigen kann es fast als selbstverständlich betrachtet wer- den, dass jedem unerlaubten Begehren — sei dieses nun ein dem Kinde selbst nachtheiliges oder nicht — eine unbedingte Verweigerung mit ausnahmsloser Consequenz entgegengesetzt werden müsse. Das Verweigern allein ist aber noch nicht Alles, sondern man muss zugleich darauf halten, dass das Kind das Verweigern ruhig hinnehme und nöthigenfalls durch ein ernstes Wort, eine Drohung u. dgl., dieses ruhige Hinnehmen zu einer festen Gewohnheit machen. Nur keine Ausnahme gemacht! — und es geht auch dies leichter und schneller, als man gemeinhin glaubt. Jede Ausnahme freilich vernichtet die Regel und erschwert die Gewöhnung auf längere Zeit. — Da- gegen gewähre man jedes erlaubte Begehren des Kin- des mit liebevoller Bereitwilligkeit. So nur erleichtert man dem Kinde die heilsame und un- entbehrliche Gewöhnung an Unterordnung und Regelung seines Willens, an Selbstunterscheidung des Erlaubten und des Nicht- erlaubten, nicht aber durch zu ängstliches Entziehen aller ein unerlaubtes Begehren anregenden Wahrnehmungen. Der Grund zu der dazu nöthigen geistigen Kraft muss frühzeitig gelegt, und ihre Erstarkung kann, wie die jeder anderen Kraft, nur durch Uebung erreicht werden. Will man später erst damit beginnen, so wird das Gelingen ungleich schwieriger, und das darauf nicht eingeübte kindliche Gemüth dem Eindrucke der Bitterkeit ausgesetzt. Eine sehr gute, dieser Altersstufe ganz zeitgemässe Uebung in der Kunst sich zu versagen, ist die, dass man dem Kinde oft Gelegenheit gibt, andere Personen in seiner nächsten Um- gebung essen und trinken sehen zu lernen, ohne dass es selbst danach begehrt. Ist es schon für das körper-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/67
Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/67>, abgerufen am 28.04.2024.