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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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17. -- 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
haben (vgl. S. 262). Da wo es die Umstände irgend gestal-
ten, möge die übrige Zeit auf geistige Fortbildung und auf
Vervollkommnung der Umgangsbildung verwendet werden.
Die geistige Fortbildung wird sich, entsprechend dem vorwal-
ten sollenden Gemüthsleben des weiblichen Geschlechtes, in
etwas überwiegendem Grade der Ausbildung des Kunst- und
Schönheitssinnes zuzuwenden haben. Wird die Jungfrau, wie
es aus vielen begreiflichen Gründen dringend zu wünschen,
nicht zu früh in den Strudel des Weltlebens hineingerissen,
so bleibt ihr nach dem eigentlichen Lernalter meist noch reich-
liche Zeit, um jede etwa noch vorhandene Lücke in den ver-
schiedenen Zweigen ihrer Ausbildung zu füllen.

Der Uebergang der Jungfrau in die Lebens-Sphäre der
Erwachsenen ist ungleich weniger mit Gefahren bedroht, als
der des Jünglinges, da erstere doch meist nur in den engeren,
mit dem Familienleben verbundenen und daher leichter über-
wachbaren Kreisen sich bewegt. Im Allgemeinen lässt sich
nur eine einzige Gefahr hervorheben, welcher die Jungfrau
vorzugsweise ausgesetzt ist: die Eitelkeit, die Gefallsucht
mit ihren Folgen. Obgleich aus der ganzen Eigenthümlichkeit
der weiblichen Natur und Lebensstellung leicht hervorgehend
und daher immer noch viel eher verzeihlich als für den Jüng-
ling, ist sie doch im Stande, die edle zarte Weiblichkeit und
Natürlichkeit vollständig zu vernichten. Ist dies schon zu be-
fürchten, wenn die Eitelkeit sich nur auf äussere Vorzüge er-
streckt, so würde es in einem noch weit höheren Grade der
Fall sein, wenn die Jungfrau Gefühle oder gar heilige Em-
pfindungen zur Schau trüge. Dann wäre gänzliche Entsitt-
lichung damit verbunden.

Ebenso würde aber auch das andere Extrem, eine gänz-
liche Nichtachtung der äusseren Erscheinung sehr tadelns-
werth sein. Immer mag daher eine volle Achtsamkeit auf
ihr Aeusseres mit einem bescheidenen Anstriche von Selbst-
gefälligkeit für die Jungfrau als die richtige Mitte gelten.
Edle Einfachheit im Aeusseren und tiefe Fülle des Inneren
sind der Jungfrau einzig wahre Zierde.



17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
haben (vgl. S. 262). Da wo es die Umstände irgend gestal-
ten, möge die übrige Zeit auf geistige Fortbildung und auf
Vervollkommnung der Umgangsbildung verwendet werden.
Die geistige Fortbildung wird sich, entsprechend dem vorwal-
ten sollenden Gemüthsleben des weiblichen Geschlechtes, in
etwas überwiegendem Grade der Ausbildung des Kunst- und
Schönheitssinnes zuzuwenden haben. Wird die Jungfrau, wie
es aus vielen begreiflichen Gründen dringend zu wünschen,
nicht zu früh in den Strudel des Weltlebens hineingerissen,
so bleibt ihr nach dem eigentlichen Lernalter meist noch reich-
liche Zeit, um jede etwa noch vorhandene Lücke in den ver-
schiedenen Zweigen ihrer Ausbildung zu füllen.

Der Uebergang der Jungfrau in die Lebens-Sphäre der
Erwachsenen ist ungleich weniger mit Gefahren bedroht, als
der des Jünglinges, da erstere doch meist nur in den engeren,
mit dem Familienleben verbundenen und daher leichter über-
wachbaren Kreisen sich bewegt. Im Allgemeinen lässt sich
nur eine einzige Gefahr hervorheben, welcher die Jungfrau
vorzugsweise ausgesetzt ist: die Eitelkeit, die Gefallsucht
mit ihren Folgen. Obgleich aus der ganzen Eigenthümlichkeit
der weiblichen Natur und Lebensstellung leicht hervorgehend
und daher immer noch viel eher verzeihlich als für den Jüng-
ling, ist sie doch im Stande, die edle zarte Weiblichkeit und
Natürlichkeit vollständig zu vernichten. Ist dies schon zu be-
fürchten, wenn die Eitelkeit sich nur auf äussere Vorzüge er-
streckt, so würde es in einem noch weit höheren Grade der
Fall sein, wenn die Jungfrau Gefühle oder gar heilige Em-
pfindungen zur Schau trüge. Dann wäre gänzliche Entsitt-
lichung damit verbunden.

Ebenso würde aber auch das andere Extrem, eine gänz-
liche Nichtachtung der äusseren Erscheinung sehr tadelns-
werth sein. Immer mag daher eine volle Achtsamkeit auf
ihr Aeusseres mit einem bescheidenen Anstriche von Selbst-
gefälligkeit für die Jungfrau als die richtige Mitte gelten.
Edle Einfachheit im Aeusseren und tiefe Fülle des Inneren
sind der Jungfrau einzig wahre Zierde.



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[302/0306] 17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE. haben (vgl. S. 262). Da wo es die Umstände irgend gestal- ten, möge die übrige Zeit auf geistige Fortbildung und auf Vervollkommnung der Umgangsbildung verwendet werden. Die geistige Fortbildung wird sich, entsprechend dem vorwal- ten sollenden Gemüthsleben des weiblichen Geschlechtes, in etwas überwiegendem Grade der Ausbildung des Kunst- und Schönheitssinnes zuzuwenden haben. Wird die Jungfrau, wie es aus vielen begreiflichen Gründen dringend zu wünschen, nicht zu früh in den Strudel des Weltlebens hineingerissen, so bleibt ihr nach dem eigentlichen Lernalter meist noch reich- liche Zeit, um jede etwa noch vorhandene Lücke in den ver- schiedenen Zweigen ihrer Ausbildung zu füllen. Der Uebergang der Jungfrau in die Lebens-Sphäre der Erwachsenen ist ungleich weniger mit Gefahren bedroht, als der des Jünglinges, da erstere doch meist nur in den engeren, mit dem Familienleben verbundenen und daher leichter über- wachbaren Kreisen sich bewegt. Im Allgemeinen lässt sich nur eine einzige Gefahr hervorheben, welcher die Jungfrau vorzugsweise ausgesetzt ist: die Eitelkeit, die Gefallsucht mit ihren Folgen. Obgleich aus der ganzen Eigenthümlichkeit der weiblichen Natur und Lebensstellung leicht hervorgehend und daher immer noch viel eher verzeihlich als für den Jüng- ling, ist sie doch im Stande, die edle zarte Weiblichkeit und Natürlichkeit vollständig zu vernichten. Ist dies schon zu be- fürchten, wenn die Eitelkeit sich nur auf äussere Vorzüge er- streckt, so würde es in einem noch weit höheren Grade der Fall sein, wenn die Jungfrau Gefühle oder gar heilige Em- pfindungen zur Schau trüge. Dann wäre gänzliche Entsitt- lichung damit verbunden. Ebenso würde aber auch das andere Extrem, eine gänz- liche Nichtachtung der äusseren Erscheinung sehr tadelns- werth sein. Immer mag daher eine volle Achtsamkeit auf ihr Aeusseres mit einem bescheidenen Anstriche von Selbst- gefälligkeit für die Jungfrau als die richtige Mitte gelten. Edle Einfachheit im Aeusseren und tiefe Fülle des Inneren sind der Jungfrau einzig wahre Zierde.

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/306>, abgerufen am 06.05.2024.