Die Verkehrtheit dieser Vorurtheile geht so weit, dass viele Mütter es gar nicht mehr begreifen wollen, wie ein Mäd- chen ohne alles Schnüren wohlgefällig gekleidet werden könne, dass sie nicht einmal den Muth haben, es zu versuchen. Thäten sie letzteres, so würden sie sich bald davon überzeu- gen. Selbst solche Mädchen, die durch diese hässliche Ver- krüppelungstracht bereits verwöhnt sind und die Kraft des Freitragens verloren haben, werden nach kurzer Zeit der Um- gewöhnung durch ihre ganze äussere Erscheinung den Müttern die Schuppen von den Augen reissen und freiathmend dank- bar aufjauchzen. Wohl ihnen, wenn es dann noch Zeit ist, wenn die in der Dauer unvermeidlichen Folgen, die Verkrüp- pelungen innerer edler Organe, noch rechtzeitig abgewendet werden können.
So lange also nicht der sich entwickelnde weibliche Bu- sen Unterstützung verlangt, halte man durchaus jede Schnürbrust von den Mädchen fern. Für den reinen Schönheitssinn wird dann auch die äussere Erscheinung der- selben Nichts zu wünschen übrig lassen.
Die für die Gesundheit der Kinder beiderlei Geschlechtes zuträglichsten Oberkleider sind offenbar die mit Kutten- oder Blousenschnitt, vorausgesetzt, dass die sie zusammenhal- tenden Gurte oder Schnuren lose um den Körper befestigt werden. Möchte doch die launische und tyrannische Göttin der Mode einmal die Gnade haben, diese schöne und natur- gemässe Tracht den Kindern bis gegen das erwachsene Alter hin zu belassen!
Tadelnswerth ist der Gebrauch, die Unterröcke der Mädchen so einzurichten, dass ihr alleiniger Halt im Zusam- menbinden über der Hüfte besteht, wodurch eine auf Weich- theile treffende einschneidende Wirkung ausgeübt wird. Ein weiterer Nachtheil, nämlich Ungleichheit der Körperhaltung, wird dann veranlasst, wenn man die Mädchen mehrfache Un- terröcke auf diese Weise übereinander tragen lässt. Es ist dabei nicht zu verhüten, dass die über den Hüften oft flüch- tig und ungleich gebundenen Bänder, durch die Last der Röcke herabgezerrt, auf der einen Seite mehr einschneiden als auf
8. — 16. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEKLEIDUNG.
Die Verkehrtheit dieser Vorurtheile geht so weit, dass viele Mütter es gar nicht mehr begreifen wollen, wie ein Mäd- chen ohne alles Schnüren wohlgefällig gekleidet werden könne, dass sie nicht einmal den Muth haben, es zu versuchen. Thäten sie letzteres, so würden sie sich bald davon überzeu- gen. Selbst solche Mädchen, die durch diese hässliche Ver- krüppelungstracht bereits verwöhnt sind und die Kraft des Freitragens verloren haben, werden nach kurzer Zeit der Um- gewöhnung durch ihre ganze äussere Erscheinung den Müttern die Schuppen von den Augen reissen und freiathmend dank- bar aufjauchzen. Wohl ihnen, wenn es dann noch Zeit ist, wenn die in der Dauer unvermeidlichen Folgen, die Verkrüp- pelungen innerer edler Organe, noch rechtzeitig abgewendet werden können.
So lange also nicht der sich entwickelnde weibliche Bu- sen Unterstützung verlangt, halte man durchaus jede Schnürbrust von den Mädchen fern. Für den reinen Schönheitssinn wird dann auch die äussere Erscheinung der- selben Nichts zu wünschen übrig lassen.
Die für die Gesundheit der Kinder beiderlei Geschlechtes zuträglichsten Oberkleider sind offenbar die mit Kutten- oder Blousenschnitt, vorausgesetzt, dass die sie zusammenhal- tenden Gurte oder Schnuren lose um den Körper befestigt werden. Möchte doch die launische und tyrannische Göttin der Mode einmal die Gnade haben, diese schöne und natur- gemässe Tracht den Kindern bis gegen das erwachsene Alter hin zu belassen!
Tadelnswerth ist der Gebrauch, die Unterröcke der Mädchen so einzurichten, dass ihr alleiniger Halt im Zusam- menbinden über der Hüfte besteht, wodurch eine auf Weich- theile treffende einschneidende Wirkung ausgeübt wird. Ein weiterer Nachtheil, nämlich Ungleichheit der Körperhaltung, wird dann veranlasst, wenn man die Mädchen mehrfache Un- terröcke auf diese Weise übereinander tragen lässt. Es ist dabei nicht zu verhüten, dass die über den Hüften oft flüch- tig und ungleich gebundenen Bänder, durch die Last der Röcke herabgezerrt, auf der einen Seite mehr einschneiden als auf
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8. — 16. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEKLEIDUNG.
Die Verkehrtheit dieser Vorurtheile geht so weit, dass
viele Mütter es gar nicht mehr begreifen wollen, wie ein Mäd-
chen ohne alles Schnüren wohlgefällig gekleidet werden könne,
dass sie nicht einmal den Muth haben, es zu versuchen.
Thäten sie letzteres, so würden sie sich bald davon überzeu-
gen. Selbst solche Mädchen, die durch diese hässliche Ver-
krüppelungstracht bereits verwöhnt sind und die Kraft des
Freitragens verloren haben, werden nach kurzer Zeit der Um-
gewöhnung durch ihre ganze äussere Erscheinung den Müttern
die Schuppen von den Augen reissen und freiathmend dank-
bar aufjauchzen. Wohl ihnen, wenn es dann noch Zeit ist,
wenn die in der Dauer unvermeidlichen Folgen, die Verkrüp-
pelungen innerer edler Organe, noch rechtzeitig abgewendet
werden können.
So lange also nicht der sich entwickelnde weibliche Bu-
sen Unterstützung verlangt, halte man durchaus jede
Schnürbrust von den Mädchen fern. Für den reinen
Schönheitssinn wird dann auch die äussere Erscheinung der-
selben Nichts zu wünschen übrig lassen.
Die für die Gesundheit der Kinder beiderlei Geschlechtes
zuträglichsten Oberkleider sind offenbar die mit Kutten- oder
Blousenschnitt, vorausgesetzt, dass die sie zusammenhal-
tenden Gurte oder Schnuren lose um den Körper befestigt
werden. Möchte doch die launische und tyrannische Göttin
der Mode einmal die Gnade haben, diese schöne und natur-
gemässe Tracht den Kindern bis gegen das erwachsene Alter
hin zu belassen!
Tadelnswerth ist der Gebrauch, die Unterröcke der
Mädchen so einzurichten, dass ihr alleiniger Halt im Zusam-
menbinden über der Hüfte besteht, wodurch eine auf Weich-
theile treffende einschneidende Wirkung ausgeübt wird. Ein
weiterer Nachtheil, nämlich Ungleichheit der Körperhaltung,
wird dann veranlasst, wenn man die Mädchen mehrfache Un-
terröcke auf diese Weise übereinander tragen lässt. Es ist
dabei nicht zu verhüten, dass die über den Hüften oft flüch-
tig und ungleich gebundenen Bänder, durch die Last der Röcke
herabgezerrt, auf der einen Seite mehr einschneiden als auf
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/196>, abgerufen am 16.02.2025.
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