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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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dem richtigen neuen Ausgangspunkte angekommen ist. Also
wird das richtigste Verfahren im Allgemeinen darin bestehen:
dass man nicht den sofortigen Uebergang von einem
Extreme zum anderen erzwingen wollen darf, son-
dern dass man immer zuerst den mittlen Indiffe-
renzpunkt zu gewinnen suchen muss, um erst von
hier aus nach der entgegengesetzten Richtung zu
steuern
. Die schlechte Richtung muss aber ganz abgeschnit-
ten werden, selbst wenn der Weg nach dem guten Ziele erst
später und stufenweise eingeschlagen werden kann. Man
muss nur muthig die grösseren Schwierigkeiten, welche jeder
Anfang mit sich führt, besiegen und bedenken, dass bei Aus-
dauer diese Schwierigkeiten mit jedem Tage geringer werden.
Kräftiger Anlauf und unverrücktes, aber wohldurchdachtes
Festhalten der Richtung lässt am meisten die Erreichung des
Zieles hoffen. Es ist freilich nicht zu verkennen, dass zwi-
schen allen diesen Klippen eine feine Grenze hindurchläuft,
deren durchaus nothwendiges Einhalten oft einen ungewöhnli-
chen Erziehungstact verlangt.

Auf Seite des Zöglings ist die Hauptbedingung einer
gründlichen Umgewöhnung, dass er zur Erkenntniss seiner
Fehler gebracht, und dadurch der ernstliche Vorsatz sich
zu bessern in ihm erzeugt wird. Der Erzieher muss sich also
in aller möglichen Weise an den Verstand und das immer
mehr zu weckende Ehrgefühl des Kindes zu wenden suchen.
Die Abspiegelung an lebenden Beispielen, namentlich von an-
deren Kindern, verhilft dazu am besten. Ein darauf berech-
neter Umgang ist daher vor allen Dingen nöthig. Am besten
ist es, wenn man dazu Kinder wählen kann, die 2--3 Jahre
älter sind. Wetteifer und Ehrgefühl wirken hier als mächtige
Hebel. In schlimmen Fällen wirkt eine Veränderung der
ganzen Umgebung oft noch vortheilhaft. Dass in den meisten
Fällen alle Gattungen von Erziehungsmitteln überhaupt, Ab-
lenkungen, bestimmtere (ernste oder heitere) Beschäftigungen,
Ermahnungen, Lob, Tadel, Strafe u. s. w., nach Umständen in
Anwendung kommen müssen, liegt auf der Hand. Die im
einzelnen Falle wirksamsten Mittel lassen sich jedoch erst aus

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dem richtigen neuen Ausgangspunkte angekommen ist. Also
wird das richtigste Verfahren im Allgemeinen darin bestehen:
dass man nicht den sofortigen Uebergang von einem
Extreme zum anderen erzwingen wollen darf, son-
dern dass man immer zuerst den mittlen Indiffe-
renzpunkt zu gewinnen suchen muss, um erst von
hier aus nach der entgegengesetzten Richtung zu
steuern
. Die schlechte Richtung muss aber ganz abgeschnit-
ten werden, selbst wenn der Weg nach dem guten Ziele erst
später und stufenweise eingeschlagen werden kann. Man
muss nur muthig die grösseren Schwierigkeiten, welche jeder
Anfang mit sich führt, besiegen und bedenken, dass bei Aus-
dauer diese Schwierigkeiten mit jedem Tage geringer werden.
Kräftiger Anlauf und unverrücktes, aber wohldurchdachtes
Festhalten der Richtung lässt am meisten die Erreichung des
Zieles hoffen. Es ist freilich nicht zu verkennen, dass zwi-
schen allen diesen Klippen eine feine Grenze hindurchläuft,
deren durchaus nothwendiges Einhalten oft einen ungewöhnli-
chen Erziehungstact verlangt.

Auf Seite des Zöglings ist die Hauptbedingung einer
gründlichen Umgewöhnung, dass er zur Erkenntniss seiner
Fehler gebracht, und dadurch der ernstliche Vorsatz sich
zu bessern in ihm erzeugt wird. Der Erzieher muss sich also
in aller möglichen Weise an den Verstand und das immer
mehr zu weckende Ehrgefühl des Kindes zu wenden suchen.
Die Abspiegelung an lebenden Beispielen, namentlich von an-
deren Kindern, verhilft dazu am besten. Ein darauf berech-
neter Umgang ist daher vor allen Dingen nöthig. Am besten
ist es, wenn man dazu Kinder wählen kann, die 2—3 Jahre
älter sind. Wetteifer und Ehrgefühl wirken hier als mächtige
Hebel. In schlimmen Fällen wirkt eine Veränderung der
ganzen Umgebung oft noch vortheilhaft. Dass in den meisten
Fällen alle Gattungen von Erziehungsmitteln überhaupt, Ab-
lenkungen, bestimmtere (ernste oder heitere) Beschäftigungen,
Ermahnungen, Lob, Tadel, Strafe u. s. w., nach Umständen in
Anwendung kommen müssen, liegt auf der Hand. Die im
einzelnen Falle wirksamsten Mittel lassen sich jedoch erst aus

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[163/0167] 8. — 16. JAHR. VORBEMERKUNGEN. dem richtigen neuen Ausgangspunkte angekommen ist. Also wird das richtigste Verfahren im Allgemeinen darin bestehen: dass man nicht den sofortigen Uebergang von einem Extreme zum anderen erzwingen wollen darf, son- dern dass man immer zuerst den mittlen Indiffe- renzpunkt zu gewinnen suchen muss, um erst von hier aus nach der entgegengesetzten Richtung zu steuern. Die schlechte Richtung muss aber ganz abgeschnit- ten werden, selbst wenn der Weg nach dem guten Ziele erst später und stufenweise eingeschlagen werden kann. Man muss nur muthig die grösseren Schwierigkeiten, welche jeder Anfang mit sich führt, besiegen und bedenken, dass bei Aus- dauer diese Schwierigkeiten mit jedem Tage geringer werden. Kräftiger Anlauf und unverrücktes, aber wohldurchdachtes Festhalten der Richtung lässt am meisten die Erreichung des Zieles hoffen. Es ist freilich nicht zu verkennen, dass zwi- schen allen diesen Klippen eine feine Grenze hindurchläuft, deren durchaus nothwendiges Einhalten oft einen ungewöhnli- chen Erziehungstact verlangt. Auf Seite des Zöglings ist die Hauptbedingung einer gründlichen Umgewöhnung, dass er zur Erkenntniss seiner Fehler gebracht, und dadurch der ernstliche Vorsatz sich zu bessern in ihm erzeugt wird. Der Erzieher muss sich also in aller möglichen Weise an den Verstand und das immer mehr zu weckende Ehrgefühl des Kindes zu wenden suchen. Die Abspiegelung an lebenden Beispielen, namentlich von an- deren Kindern, verhilft dazu am besten. Ein darauf berech- neter Umgang ist daher vor allen Dingen nöthig. Am besten ist es, wenn man dazu Kinder wählen kann, die 2—3 Jahre älter sind. Wetteifer und Ehrgefühl wirken hier als mächtige Hebel. In schlimmen Fällen wirkt eine Veränderung der ganzen Umgebung oft noch vortheilhaft. Dass in den meisten Fällen alle Gattungen von Erziehungsmitteln überhaupt, Ab- lenkungen, bestimmtere (ernste oder heitere) Beschäftigungen, Ermahnungen, Lob, Tadel, Strafe u. s. w., nach Umständen in Anwendung kommen müssen, liegt auf der Hand. Die im einzelnen Falle wirksamsten Mittel lassen sich jedoch erst aus 11*

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/167>, abgerufen am 24.11.2024.