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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
fern gehalten werden, was sich auf Religion bezieht? O, nein!
Nur soll jener Sehnsuchtskeim und das daraus aufblühende
Gefühl nicht vor seinem Erwachen erstickt werden durch vor-
zeitiges Aufdringen des religiösen Sinnes, durch vorzeitige
Nöthigungen zum Mitbeten -- welches dann, und oft für im-
mer, zur leeren Form herabgewürdigt wird --, oder zum Mit-
besuche der Kirche, welche dem Kinde dadurch zu einem
Strafhause gemacht wird --, oder zum Anhören religiöser Be-
lehrungen, Betrachtungen u. s. w. --, die das Kind nicht zu
fassen vermag. Der wahre religiöse Sinn kann nur frei aus
dem Inneren heraus sich entwickeln, nicht von aussen gewalt-
sam aufgepfropft werden. Jeder Zwang übt hier eine vernich-
tende Wirkung. Die Religion entfaltet sich nur da zum herr-
schenden Genius des Lebens, wo sie wurzelächt ist.

Jenes stille Suchen nach Gott sollen wir im Kinde vor-
sichtig begünstigen und, wo es gänzlich fehlen sollte, wecken.
Wir sollen, wie es die Gelegenheit bietet, zuweilen erhebende
und heiligende Empfindungen einziehen lassen, aber nur durch
Wahrnehmungen
, hervorgerufen besonders durch sinnige
Betrachtungen von Naturschönheiten aller Art (von Blumen,
Thieren, Wald, Fluren, von erhebenden Bildern der Erdober-
fläche und des Himmels) oder durch passives Anschauen an-
derer zur Andacht erhebender Scenen, z. B. durch einen kurz-
dauernden
Blick auf eine andächtige Gemeinde u. dgl. Fragt
das Kind hier oder da nach dem Urquelle der Dinge, so nen-
nen wir ihm Gott als den liebenden Weltvater, brechen aber
hier ab und antworten, wenn es tiefer eindringen will mit sei-
nen Fragen: "das Weitere sollst du später erfahren." So
nähren wir auf eine heilsame Weise die Sehnsucht und halten
das kindliche Gemüth offen für die spätere Aufnahme der vol-
len Befriedigung. Der natürliche Weg zu diesem Ziele lässt
sich also mit kurzen Worten so bezeichnen: Wir sollen das
Kind auf dieser Altersstufe von speciellen Religions-
begriffen und äusseren Religionsübungen fern hal-
ten
, dagegen bis zur nöthigen Reife der Denkkraft seine Ge-
fühle allmälig mehr den Armen der Religion ent-
gegenführen.

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN.
fern gehalten werden, was sich auf Religion bezieht? O, nein!
Nur soll jener Sehnsuchtskeim und das daraus aufblühende
Gefühl nicht vor seinem Erwachen erstickt werden durch vor-
zeitiges Aufdringen des religiösen Sinnes, durch vorzeitige
Nöthigungen zum Mitbeten — welches dann, und oft für im-
mer, zur leeren Form herabgewürdigt wird —, oder zum Mit-
besuche der Kirche, welche dem Kinde dadurch zu einem
Strafhause gemacht wird —, oder zum Anhören religiöser Be-
lehrungen, Betrachtungen u. s. w. —, die das Kind nicht zu
fassen vermag. Der wahre religiöse Sinn kann nur frei aus
dem Inneren heraus sich entwickeln, nicht von aussen gewalt-
sam aufgepfropft werden. Jeder Zwang übt hier eine vernich-
tende Wirkung. Die Religion entfaltet sich nur da zum herr-
schenden Genius des Lebens, wo sie wurzelächt ist.

Jenes stille Suchen nach Gott sollen wir im Kinde vor-
sichtig begünstigen und, wo es gänzlich fehlen sollte, wecken.
Wir sollen, wie es die Gelegenheit bietet, zuweilen erhebende
und heiligende Empfindungen einziehen lassen, aber nur durch
Wahrnehmungen
, hervorgerufen besonders durch sinnige
Betrachtungen von Naturschönheiten aller Art (von Blumen,
Thieren, Wald, Fluren, von erhebenden Bildern der Erdober-
fläche und des Himmels) oder durch passives Anschauen an-
derer zur Andacht erhebender Scenen, z. B. durch einen kurz-
dauernden
Blick auf eine andächtige Gemeinde u. dgl. Fragt
das Kind hier oder da nach dem Urquelle der Dinge, so nen-
nen wir ihm Gott als den liebenden Weltvater, brechen aber
hier ab und antworten, wenn es tiefer eindringen will mit sei-
nen Fragen: „das Weitere sollst du später erfahren.“ So
nähren wir auf eine heilsame Weise die Sehnsucht und halten
das kindliche Gemüth offen für die spätere Aufnahme der vol-
len Befriedigung. Der natürliche Weg zu diesem Ziele lässt
sich also mit kurzen Worten so bezeichnen: Wir sollen das
Kind auf dieser Altersstufe von speciellen Religions-
begriffen und äusseren Religionsübungen fern hal-
ten
, dagegen bis zur nöthigen Reife der Denkkraft seine Ge-
fühle allmälig mehr den Armen der Religion ent-
gegenführen.

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[155/0159] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINEN ÄLTERN. fern gehalten werden, was sich auf Religion bezieht? O, nein! Nur soll jener Sehnsuchtskeim und das daraus aufblühende Gefühl nicht vor seinem Erwachen erstickt werden durch vor- zeitiges Aufdringen des religiösen Sinnes, durch vorzeitige Nöthigungen zum Mitbeten — welches dann, und oft für im- mer, zur leeren Form herabgewürdigt wird —, oder zum Mit- besuche der Kirche, welche dem Kinde dadurch zu einem Strafhause gemacht wird —, oder zum Anhören religiöser Be- lehrungen, Betrachtungen u. s. w. —, die das Kind nicht zu fassen vermag. Der wahre religiöse Sinn kann nur frei aus dem Inneren heraus sich entwickeln, nicht von aussen gewalt- sam aufgepfropft werden. Jeder Zwang übt hier eine vernich- tende Wirkung. Die Religion entfaltet sich nur da zum herr- schenden Genius des Lebens, wo sie wurzelächt ist. Jenes stille Suchen nach Gott sollen wir im Kinde vor- sichtig begünstigen und, wo es gänzlich fehlen sollte, wecken. Wir sollen, wie es die Gelegenheit bietet, zuweilen erhebende und heiligende Empfindungen einziehen lassen, aber nur durch Wahrnehmungen, hervorgerufen besonders durch sinnige Betrachtungen von Naturschönheiten aller Art (von Blumen, Thieren, Wald, Fluren, von erhebenden Bildern der Erdober- fläche und des Himmels) oder durch passives Anschauen an- derer zur Andacht erhebender Scenen, z. B. durch einen kurz- dauernden Blick auf eine andächtige Gemeinde u. dgl. Fragt das Kind hier oder da nach dem Urquelle der Dinge, so nen- nen wir ihm Gott als den liebenden Weltvater, brechen aber hier ab und antworten, wenn es tiefer eindringen will mit sei- nen Fragen: „das Weitere sollst du später erfahren.“ So nähren wir auf eine heilsame Weise die Sehnsucht und halten das kindliche Gemüth offen für die spätere Aufnahme der vol- len Befriedigung. Der natürliche Weg zu diesem Ziele lässt sich also mit kurzen Worten so bezeichnen: Wir sollen das Kind auf dieser Altersstufe von speciellen Religions- begriffen und äusseren Religionsübungen fern hal- ten, dagegen bis zur nöthigen Reife der Denkkraft seine Ge- fühle allmälig mehr den Armen der Religion ent- gegenführen.

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/159>, abgerufen am 24.11.2024.