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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.
der Fabel genommen werden; denn da ist keine Fälschung
des Begriffes, sondern nur eine vom Kinde selbst willkührlich
erzeugte, daher ihm klar bewusste Belebung des vor den Augen
befindlichen und begrifflich richtig erfassten Gegenstandes da-
mit verbunden. Werden aber Thieren, Pflanzen, Steinen mensch-
liche Eigenschaften beigelegt, wie in der Fabel, so laufen die
Begriffe: Thier, Pflanze, Stein und Mensch, durcheinander.

Grundbedingung für die erste Geistesnahrung ist volle
Klarheit und Wahrheit der Begriffe. In diesem Alter wird
ein kräftiges Gedeihen des Geistes nur durch einfache und
natürliche Nahrung erzielt. Was künstliche Leckerbissen für
den körperlichen Magen des Säuglings sein würden, das sind
jetzt Fabeln und Mährchen für den geistigen Magen. Sie er-
zeugen unreines Geistesblut.

Das Mährchen wirkt ganz besonders noch dadurch ver-
derblich, dass es in mehr oder weniger unheimlichen, schauer-
lichen, grausigen Gemüthseindrücken, wonach gerade die Kin-
der vermöge der grossen Lebendigkeit ihrer Phantasie recht
lüstern sind, seine Spitze hat.

Vorzeitig genossen, erschwert die Fabel das Festwurzeln
der Wahrhaftigkeit der Gesinnung, bahnt den Weg, wenn
auch nur indirect, zur Lüge, flösst das Mährchen Furcht
und Aberglauben in das kindliche Gemüth. Wer nur eini-
germaassen das Innere des Menschen prüfend beobachtet hat,
der weiss, wie fest diese drei eng verschwisterten Dämonen
des Schattenreiches wurzeln, wenn sie unter irgend einer Form
in der zarten Jugend sich einmal eingeschlichen haben, wie
oft selbst die spätere bessere Erkenntniss und Willenskraft
nicht mehr vermag, sie mit allen ihren Wurzelfasern aus-
zurotten.

Warum also wählt man immer gerade solche vorzeitige
und deshalb gefährliche Geistesnahrung? Lässt man sich be-
stechen durch den damit leicht zu reizenden geistigen Sinnen-
kitzel der Kinder? Ist man denn verlegen um anderen gleich
schmackhaften, dabei aber unschädlichen und gedeihlichen
Stoff? O, gewiss nicht! Gebet den Kindern Erzählun-
gen aus dem reichen Bilderbuche des realen Lebens

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.
der Fabel genommen werden; denn da ist keine Fälschung
des Begriffes, sondern nur eine vom Kinde selbst willkührlich
erzeugte, daher ihm klar bewusste Belebung des vor den Augen
befindlichen und begrifflich richtig erfassten Gegenstandes da-
mit verbunden. Werden aber Thieren, Pflanzen, Steinen mensch-
liche Eigenschaften beigelegt, wie in der Fabel, so laufen die
Begriffe: Thier, Pflanze, Stein und Mensch, durcheinander.

Grundbedingung für die erste Geistesnahrung ist volle
Klarheit und Wahrheit der Begriffe. In diesem Alter wird
ein kräftiges Gedeihen des Geistes nur durch einfache und
natürliche Nahrung erzielt. Was künstliche Leckerbissen für
den körperlichen Magen des Säuglings sein würden, das sind
jetzt Fabeln und Mährchen für den geistigen Magen. Sie er-
zeugen unreines Geistesblut.

Das Mährchen wirkt ganz besonders noch dadurch ver-
derblich, dass es in mehr oder weniger unheimlichen, schauer-
lichen, grausigen Gemüthseindrücken, wonach gerade die Kin-
der vermöge der grossen Lebendigkeit ihrer Phantasie recht
lüstern sind, seine Spitze hat.

Vorzeitig genossen, erschwert die Fabel das Festwurzeln
der Wahrhaftigkeit der Gesinnung, bahnt den Weg, wenn
auch nur indirect, zur Lüge, flösst das Mährchen Furcht
und Aberglauben in das kindliche Gemüth. Wer nur eini-
germaassen das Innere des Menschen prüfend beobachtet hat,
der weiss, wie fest diese drei eng verschwisterten Dämonen
des Schattenreiches wurzeln, wenn sie unter irgend einer Form
in der zarten Jugend sich einmal eingeschlichen haben, wie
oft selbst die spätere bessere Erkenntniss und Willenskraft
nicht mehr vermag, sie mit allen ihren Wurzelfasern aus-
zurotten.

Warum also wählt man immer gerade solche vorzeitige
und deshalb gefährliche Geistesnahrung? Lässt man sich be-
stechen durch den damit leicht zu reizenden geistigen Sinnen-
kitzel der Kinder? Ist man denn verlegen um anderen gleich
schmackhaften, dabei aber unschädlichen und gedeihlichen
Stoff? O, gewiss nicht! Gebet den Kindern Erzählun-
gen aus dem reichen Bilderbuche des realen Lebens

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[124/0128] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN. der Fabel genommen werden; denn da ist keine Fälschung des Begriffes, sondern nur eine vom Kinde selbst willkührlich erzeugte, daher ihm klar bewusste Belebung des vor den Augen befindlichen und begrifflich richtig erfassten Gegenstandes da- mit verbunden. Werden aber Thieren, Pflanzen, Steinen mensch- liche Eigenschaften beigelegt, wie in der Fabel, so laufen die Begriffe: Thier, Pflanze, Stein und Mensch, durcheinander. Grundbedingung für die erste Geistesnahrung ist volle Klarheit und Wahrheit der Begriffe. In diesem Alter wird ein kräftiges Gedeihen des Geistes nur durch einfache und natürliche Nahrung erzielt. Was künstliche Leckerbissen für den körperlichen Magen des Säuglings sein würden, das sind jetzt Fabeln und Mährchen für den geistigen Magen. Sie er- zeugen unreines Geistesblut. Das Mährchen wirkt ganz besonders noch dadurch ver- derblich, dass es in mehr oder weniger unheimlichen, schauer- lichen, grausigen Gemüthseindrücken, wonach gerade die Kin- der vermöge der grossen Lebendigkeit ihrer Phantasie recht lüstern sind, seine Spitze hat. Vorzeitig genossen, erschwert die Fabel das Festwurzeln der Wahrhaftigkeit der Gesinnung, bahnt den Weg, wenn auch nur indirect, zur Lüge, flösst das Mährchen Furcht und Aberglauben in das kindliche Gemüth. Wer nur eini- germaassen das Innere des Menschen prüfend beobachtet hat, der weiss, wie fest diese drei eng verschwisterten Dämonen des Schattenreiches wurzeln, wenn sie unter irgend einer Form in der zarten Jugend sich einmal eingeschlichen haben, wie oft selbst die spätere bessere Erkenntniss und Willenskraft nicht mehr vermag, sie mit allen ihren Wurzelfasern aus- zurotten. Warum also wählt man immer gerade solche vorzeitige und deshalb gefährliche Geistesnahrung? Lässt man sich be- stechen durch den damit leicht zu reizenden geistigen Sinnen- kitzel der Kinder? Ist man denn verlegen um anderen gleich schmackhaften, dabei aber unschädlichen und gedeihlichen Stoff? O, gewiss nicht! Gebet den Kindern Erzählun- gen aus dem reichen Bilderbuche des realen Lebens

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/128>, abgerufen am 24.11.2024.