Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

völlig betrunken wie ein Todter da lag. Leicht wie
ein Vogel sprang Schoreel mit seinem Raube davon,
lief auf die Brücke, wo er das Papier, in tausend
Stückchen zerrissen, dem Winde und den Wellen
übergab, kehrte dann leichteren Herzens wieder
heim, und ging ruhig zu Bette.

Jn der reinen Seele des jetzt funfzehnjährigen
Knaben war bei alle dem keine Spur des Gedankens
aufgekommen, sich auf diese Weise durch Zerstörung
der Handschrift von der gegen seinen Lehrherrn ein-
gegangnen Verbindlichkeit befreien zu wollen. Sein
treues redliches Gemüth glaubte sich hinfort nicht
minder an das für ihn gethane Versprechen gebun-
den als zuvor, aber der verhaßte Anblick der Hand-
schrift, und das ewige Drohen mit dieser konnte
ihn nun doch nicht mehr plagen; er fühlte sich frei,
weil nur seine innere Überzeugung ihn band, und
ertrug nunmehr Alles mit Geduld, ward vielleicht
aber auch besser gehalten.

Redlich und treu, ohne einen Versuch zu ent-
fliehen, arbeitete er nun für den Meister nach besten
Kräften fort, lernte, so viel seine jetzige Lage ihm

völlig betrunken wie ein Todter da lag. Leicht wie
ein Vogel ſprang Schoreel mit ſeinem Raube davon,
lief auf die Brücke, wo er das Papier, in tauſend
Stückchen zerriſſen, dem Winde und den Wellen
übergab, kehrte dann leichteren Herzens wieder
heim, und ging ruhig zu Bette.

Jn der reinen Seele des jetzt funfzehnjährigen
Knaben war bei alle dem keine Spur des Gedankens
aufgekommen, ſich auf dieſe Weiſe durch Zerſtörung
der Handſchrift von der gegen ſeinen Lehrherrn ein-
gegangnen Verbindlichkeit befreien zu wollen. Sein
treues redliches Gemüth glaubte ſich hinfort nicht
minder an das für ihn gethane Verſprechen gebun-
den als zuvor, aber der verhaßte Anblick der Hand-
ſchrift, und das ewige Drohen mit dieſer konnte
ihn nun doch nicht mehr plagen; er fühlte ſich frei,
weil nur ſeine innere Überzeugung ihn band, und
ertrug nunmehr Alles mit Geduld, ward vielleicht
aber auch beſſer gehalten.

Redlich und treu, ohne einen Verſuch zu ent-
fliehen, arbeitete er nun für den Meiſter nach beſten
Kräften fort, lernte, ſo viel ſeine jetzige Lage ihm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054" n="44"/>
völlig betrunken wie ein Todter da lag. Leicht wie<lb/>
ein Vogel &#x017F;prang Schoreel mit &#x017F;einem Raube davon,<lb/>
lief auf die Brücke, wo er das Papier, in tau&#x017F;end<lb/>
Stückchen zerri&#x017F;&#x017F;en, dem Winde und den Wellen<lb/>
übergab, kehrte dann leichteren Herzens wieder<lb/>
heim, und ging ruhig zu Bette.</p><lb/>
        <p>Jn der reinen Seele des jetzt funfzehnjährigen<lb/>
Knaben war bei alle dem keine Spur des Gedankens<lb/>
aufgekommen, &#x017F;ich auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e durch Zer&#x017F;törung<lb/>
der Hand&#x017F;chrift von der gegen &#x017F;einen Lehrherrn ein-<lb/>
gegangnen Verbindlichkeit befreien zu wollen. Sein<lb/>
treues redliches Gemüth glaubte &#x017F;ich hinfort nicht<lb/>
minder an das für ihn gethane Ver&#x017F;prechen gebun-<lb/>
den als zuvor, aber der verhaßte Anblick der Hand-<lb/>
&#x017F;chrift, und das ewige Drohen mit die&#x017F;er konnte<lb/>
ihn nun doch nicht mehr plagen; er fühlte &#x017F;ich frei,<lb/>
weil nur &#x017F;eine innere Überzeugung ihn band, und<lb/>
ertrug nunmehr Alles mit Geduld, ward vielleicht<lb/>
aber auch be&#x017F;&#x017F;er gehalten.</p><lb/>
        <p>Redlich und treu, ohne einen Ver&#x017F;uch zu ent-<lb/>
fliehen, arbeitete er nun für den Mei&#x017F;ter nach be&#x017F;ten<lb/>
Kräften fort, lernte, &#x017F;o viel &#x017F;eine jetzige Lage ihm<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0054] völlig betrunken wie ein Todter da lag. Leicht wie ein Vogel ſprang Schoreel mit ſeinem Raube davon, lief auf die Brücke, wo er das Papier, in tauſend Stückchen zerriſſen, dem Winde und den Wellen übergab, kehrte dann leichteren Herzens wieder heim, und ging ruhig zu Bette. Jn der reinen Seele des jetzt funfzehnjährigen Knaben war bei alle dem keine Spur des Gedankens aufgekommen, ſich auf dieſe Weiſe durch Zerſtörung der Handſchrift von der gegen ſeinen Lehrherrn ein- gegangnen Verbindlichkeit befreien zu wollen. Sein treues redliches Gemüth glaubte ſich hinfort nicht minder an das für ihn gethane Verſprechen gebun- den als zuvor, aber der verhaßte Anblick der Hand- ſchrift, und das ewige Drohen mit dieſer konnte ihn nun doch nicht mehr plagen; er fühlte ſich frei, weil nur ſeine innere Überzeugung ihn band, und ertrug nunmehr Alles mit Geduld, ward vielleicht aber auch beſſer gehalten. Redlich und treu, ohne einen Verſuch zu ent- fliehen, arbeitete er nun für den Meiſter nach beſten Kräften fort, lernte, ſo viel ſeine jetzige Lage ihm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/54
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/54>, abgerufen am 22.11.2024.