Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit,
der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und
der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent
des Meisters hervor, die Natur mit zartem edlen
Sinn aufzufassen, mit gewissenhafter Treue darzu-
stellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von
Manier und erkünsteltem Wesen.

Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem
zwei Seitentafeln gehören, stellt das Hauptge-
mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz
todt genug erscheinende Christus hängt, umgeben
von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, dessen
oberer Theil im Rahmen des Bildes verschwindet.
Maria ist in lautloßen Jammer versunken, Joseph
von Arimathia mit noch einem Freunde stehen etwas
zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher
der Meister mit bewundernswürdigem Ausdrucke
die Verschiedenheit der Empfindung einer Fremden,
und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen
des Entseelten darstellte. Wo diese, überwältigt
von Jammer und Wehmuth, fast vergehen, empfin-
det jene nur ängstliche Scheu und banges Schrek-

der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit,
der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und
der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent
des Meiſters hervor, die Natur mit zartem edlen
Sinn aufzufaſſen, mit gewiſſenhafter Treue darzu-
ſtellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von
Manier und erkünſteltem Weſen.

Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem
zwei Seitentafeln gehören, ſtellt das Hauptge-
mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz
todt genug erſcheinende Chriſtus hängt, umgeben
von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, deſſen
oberer Theil im Rahmen des Bildes verſchwindet.
Maria iſt in lautloßen Jammer verſunken, Joſeph
von Arimathia mit noch einem Freunde ſtehen etwas
zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher
der Meiſter mit bewundernswürdigem Ausdrucke
die Verſchiedenheit der Empfindung einer Fremden,
und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen
des Entſeelten darſtellte. Wo dieſe, überwältigt
von Jammer und Wehmuth, faſt vergehen, empfin-
det jene nur ängſtliche Scheu und banges Schrek-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0158" n="150"/>
der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit,<lb/>
der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und<lb/>
der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent<lb/>
des Mei&#x017F;ters hervor, die Natur mit zartem edlen<lb/>
Sinn aufzufa&#x017F;&#x017F;en, mit gewi&#x017F;&#x017F;enhafter Treue darzu-<lb/>
&#x017F;tellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von<lb/>
Manier und erkün&#x017F;teltem We&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem<lb/>
zwei Seitentafeln gehören, &#x017F;tellt das Hauptge-<lb/>
mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz<lb/>
todt genug er&#x017F;cheinende Chri&#x017F;tus hängt, umgeben<lb/>
von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
oberer Theil im Rahmen des Bildes ver&#x017F;chwindet.<lb/>
Maria i&#x017F;t in lautloßen Jammer ver&#x017F;unken, Jo&#x017F;eph<lb/>
von Arimathia mit noch einem Freunde &#x017F;tehen etwas<lb/>
zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher<lb/>
der Mei&#x017F;ter mit bewundernswürdigem Ausdrucke<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit der Empfindung einer Fremden,<lb/>
und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen<lb/>
des Ent&#x017F;eelten dar&#x017F;tellte. Wo die&#x017F;e, überwältigt<lb/>
von Jammer und Wehmuth, fa&#x017F;t vergehen, empfin-<lb/>
det jene nur äng&#x017F;tliche Scheu und banges Schrek-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0158] der Wahl der Stellungen, dem lebensvollen Kolorit, der Zeichnung, der Schönheit der Drapperien, und der vollendeten Ausführung, geht das hohe Talent des Meiſters hervor, die Natur mit zartem edlen Sinn aufzufaſſen, mit gewiſſenhafter Treue darzu- ſtellen, und nirgend erblicken wir eine Spur von Manier und erkünſteltem Weſen. Auf dem nun folgenden Altarblatt, zu welchem zwei Seitentafeln gehören, ſtellt das Hauptge- mälde eine Kreuzigung dar; der vielleicht nicht ganz todt genug erſcheinende Chriſtus hängt, umgeben von den Seinen, am Stamme des Kreuzes, deſſen oberer Theil im Rahmen des Bildes verſchwindet. Maria iſt in lautloßen Jammer verſunken, Joſeph von Arimathia mit noch einem Freunde ſtehen etwas zurück, noch weiterhin eine Dienerin, in welcher der Meiſter mit bewundernswürdigem Ausdrucke die Verſchiedenheit der Empfindung einer Fremden, und des zerreißenden Schmerzes der Angehörigen des Entſeelten darſtellte. Wo dieſe, überwältigt von Jammer und Wehmuth, faſt vergehen, empfin- det jene nur ängſtliche Scheu und banges Schrek-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/158
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/158>, abgerufen am 08.10.2024.