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Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737.

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geheimes Liebes-Verständniß mit Eleonoren' rucht-
bar zu werden begunnte. Jedoch ehe ich meine eige-
nen fernern Geschichte verfolge, und eben itzo noch
von der Anatomie gedacht habe, muß ich einer selt-
samen Begebenheit erwehnen, welche beweiset, daß
die Lust zur Anatomie, oder welches fast glaubli-
cher, der Geld-Mangel, den Affect der Liebe eines
Kindes gegen seine Mutter, allem Ansehen nach
sehr zu mindern, ja gäntzlich auszurotten vermö-
gend ist.

Es wohnete in dasiger Vorstadt ein armer Stu-
diosus Medicinae,
nebst seiner bey nahe 70. jähri-
gen Mutter und leiblichen Schwester, in einem klei-
nen Hause zur Miethe, und erhielt dieselben von
den wenigern Geldern, die er sich etwa mit seiner
schwachen Praxi, und Information einiger Kinder
erwerben konte, wiewohl die Schwester mit ihrer
Hand-Arbeit auch etwas beygetragen haben mag.
Nachdem aber endlich die Mutter verstorben, muß
er alle seine und ihre fahrende Haabe, entweder ver-
kauffen oder versetzen, um dieselbe nur mit Ehren
unter die Erde zu bringen, welches dem armen
Schlucker dermassen zu Hertzen gehet, daß er, in-
dem das Begräbniß etliche Tage aufgeschoben wer-
den mußte, vor Sorgen und Grillen sich nicht zu las-
sen, auch nirgends Trost zu suchen weiß. Doch in
der letzten Nacht vor dem mütterlichen Begräbnisse,
fällt ihm ein, daß unser Anatomicus, dessen Privat-
Collegia
er fleißig besuchte, nur vor wenig Tagen
uns folgendergestalt angeredet: Messieuts! Sie
reiten, fahren und spaziren ja doch immer auf den
Dörffern herum, solte denn niemand unter ihnen

so

geheimes Liebes-Verſtaͤndniß mit Eleonoren’ rucht-
bar zu werden begunnte. Jedoch ehe ich meine eige-
nen fernern Geſchichte verfolge, und eben itzo noch
von der Anatomie gedacht habe, muß ich einer ſelt-
ſamen Begebenheit erwehnen, welche beweiſet, daß
die Luſt zur Anatomie, oder welches faſt glaubli-
cher, der Geld-Mangel, den Affect der Liebe eines
Kindes gegen ſeine Mutter, allem Anſehen nach
ſehr zu mindern, ja gaͤntzlich auszurotten vermoͤ-
gend iſt.

Es wohnete in daſiger Vorſtadt ein armer Stu-
dioſus Medicinæ,
nebſt ſeiner bey nahe 70. jaͤhri-
gen Mutter und leiblichen Schweſter, in einem klei-
nen Hauſe zur Miethe, und erhielt dieſelben von
den wenigern Geldern, die er ſich etwa mit ſeiner
ſchwachen Praxi, und Information einiger Kinder
erwerben konte, wiewohl die Schweſter mit ihrer
Hand-Arbeit auch etwas beygetragen haben mag.
Nachdem aber endlich die Mutter verſtorben, muß
er alle ſeine und ihre fahrende Haabe, entweder ver-
kauffen oder verſetzen, um dieſelbe nur mit Ehren
unter die Erde zu bringen, welches dem armen
Schlucker dermaſſen zu Hertzen gehet, daß er, in-
dem das Begraͤbniß etliche Tage aufgeſchoben wer-
den mußte, vor Sorgen und Grillen ſich nicht zu laſ-
ſen, auch nirgends Troſt zu ſuchen weiß. Doch in
der letzten Nacht vor dem muͤtterlichen Begraͤbniſſe,
faͤllt ihm ein, daß unſer Anatomicus, deſſen Privat-
Collegia
er fleißig beſuchte, nur vor wenig Tagen
uns folgendergeſtalt angeredet: Mesſieuts! Sie
reiten, fahren und ſpaziren ja doch immer auf den
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[203/0217] geheimes Liebes-Verſtaͤndniß mit Eleonoren’ rucht- bar zu werden begunnte. Jedoch ehe ich meine eige- nen fernern Geſchichte verfolge, und eben itzo noch von der Anatomie gedacht habe, muß ich einer ſelt- ſamen Begebenheit erwehnen, welche beweiſet, daß die Luſt zur Anatomie, oder welches faſt glaubli- cher, der Geld-Mangel, den Affect der Liebe eines Kindes gegen ſeine Mutter, allem Anſehen nach ſehr zu mindern, ja gaͤntzlich auszurotten vermoͤ- gend iſt. Es wohnete in daſiger Vorſtadt ein armer Stu- dioſus Medicinæ, nebſt ſeiner bey nahe 70. jaͤhri- gen Mutter und leiblichen Schweſter, in einem klei- nen Hauſe zur Miethe, und erhielt dieſelben von den wenigern Geldern, die er ſich etwa mit ſeiner ſchwachen Praxi, und Information einiger Kinder erwerben konte, wiewohl die Schweſter mit ihrer Hand-Arbeit auch etwas beygetragen haben mag. Nachdem aber endlich die Mutter verſtorben, muß er alle ſeine und ihre fahrende Haabe, entweder ver- kauffen oder verſetzen, um dieſelbe nur mit Ehren unter die Erde zu bringen, welches dem armen Schlucker dermaſſen zu Hertzen gehet, daß er, in- dem das Begraͤbniß etliche Tage aufgeſchoben wer- den mußte, vor Sorgen und Grillen ſich nicht zu laſ- ſen, auch nirgends Troſt zu ſuchen weiß. Doch in der letzten Nacht vor dem muͤtterlichen Begraͤbniſſe, faͤllt ihm ein, daß unſer Anatomicus, deſſen Privat- Collegia er fleißig beſuchte, nur vor wenig Tagen uns folgendergeſtalt angeredet: Mesſieuts! Sie reiten, fahren und ſpaziren ja doch immer auf den Doͤrffern herum, ſolte denn niemand unter ihnen ſo

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Zitationshilfe: Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737/217>, abgerufen am 04.05.2024.